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Lamento

Titel: Lamento
Autoren: Maggie Stiefvater
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Aodhan seinen Dolch hob, nahm ich jedes Quentchen Kraft zusammen, das ich besaß, und schlug mit der linken Hand – mitsamt dem Nagel und dem Brett – nach dem hübschen, sommersprossigen Gesicht. Ihm blieb keine Zeit, auszuweichen, so dass der Nagel mit voller Wucht in seine Wange drang.
    Er ließ den Dolch fallen.
    Aodhan riss seine Wange von dem Nagel und taumelte rückwärts. Er starrte mich an und befühlte die Wunde mit den Fingern. Die Verletzung war nicht schwerer als die an meiner Hand und gewiss nicht schlimm genug, um ihn zu töten, doch sein Blick sagte mir etwas anderes.
    Dann schob sich aus dem Loch, das der eiserne Nagel hinterlassen hatte, ein frischer grüner Spross und entfaltete sich zu einem zarten Blatt. Es folgte ein zweiter, und noch einer. Die frischen Ranken breiteten sich über seine Wange aus und explodierten förmlich zu hübschen weißen Blüten mit gelben Staubblättern, violetten Gänseblümchen mit schwarzen Körbchen und kleinen rosa Flammenden Herzen, die nickten, als er rückwärts taumelte. Binnen Sekunden brach endlose Schönheit aus dem Schmutz hervor, der Aodhan gewesen war, verschlang ihn, begrub ihn unter Leben und Verheißung. Er kippte nach hinten, doch ehe er auf den Boden aufschlug, blieb nichts als ein Schauer von Blüten, die mit einem Flüstern über die Bühne regneten.
    Ich riss die Hand von dem Nagel und packte meinen Schlüssel. Meine Hand blutete, tat aber nicht mehr weh. War das ein schlechtes Zeichen? Die Königin betrachtete das Blumenmeer, das Sommersprosse hinterlassen hatte, und sah Eleanor an. »Die Zeit für Spiele ist vorbei. Bring mir Luke Dillon.«
    Ich hielt den Atem an.
    »Mit Vergnügen«, sagte Eleanor und eilte über die Blüten hinweg, als wären sie vollkommen bedeutungslos. Ich kroch zu James hinüber und kauerte mich zwischen ihn und die Königin, obwohl ich nicht wusste, was ich gegen sie ausrichten sollte, falls sie ihn zu töten versuchte. Sie besaß meinen Namen, die Macht, mich auf der Stelle erstarren zu lassen. Ein kleiner Teil von mir wünschte sich, Luke möge wieder einmal angebraustkommen und mich retten. Aber ich glaubte nicht daran, dass es diesmal so laufen würde.
    Die Königin betrachtete mich, und ihr Blick schweifte über den blutigen Schlüssel und James hinter mir. »Du bist nicht stark genug. Weder stark genug, um mich zu töten, noch, um
sie
zu regieren.«
    Ich kauerte mit hochgezogenen Schultern auf dem Schutthaufen, hielt meine verletzte Hand im Schoß und sah zu ihr auf. »Ich will sie nicht regieren.«
    Sie zuckte mit den Schultern. »Dann werden
sie
dich töten. Kennst du nicht die Legenden? Weißt du nicht, was Kleeaugen geschieht, die die Feen nicht beherrschen? Augen ausgestochen. Gelähmt. Getötet.«
    Ihre Worte klangen wahr, wie das Echo uralter Märchen aus meiner Kindheit. Doch mein Verstand glitt fort von ihr und entkam in eine von Lukes Erinnerungen – er spielte einen wilden Reel in einem Kreis von Feen, die fiedelten und Trommeln schlugen. Ich erkannte Brendan, sah Una lächeln, hörte die wilde Schönheit des Tanzes. Das war eine der schönsten Erinnerungen, die ich je von Luke bekommen hatte – die einzige, von der ich wünschte, ich hätte sie selbst erlebt.
    »Deirdre«, herrschte die Königin mich an, und ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf sie. »Du hast doch längst aufgegeben. Leg den Schlüssel ab, und ich verspreche dir, dass es schnell gehen wird.«
    Ich sah sie stirnrunzelnd an. Irgendetwas an ihren Worten erinnerte mich an diese hauchzarte Stimme, die mir heute Morgen die Legende der anderen Deirdre – der dritten Deirdre – ins Ohr geflüstert hatte.
    Doch ehe ich darüber nachdenken konnte, warum mir das wichtig erschien, wandte die Königin den Blick Eleanor zu, die allein die Bühne betreten hatte. O Gott. Wo war Luke? Tot?
    Eleanors Miene war unergründlich. »Die
Daoine Sidhe
sind draußen erschienen, meine Königin.« Sie zog eine feingeschwungene Augenbraue hoch, und ich hätte schwören können, dass sie beinahe lächelte. »Sie fordern eine Audienz.«
    Die Königin blickte überrascht drein. »Die
Daoine Sidhe
sind nichts«, stieß sie verächtlich hervor. »Sie besitzen nicht die Macht, irgendetwas zu fordern.«
    »Das habe ich ihnen bereits gesagt, meine Königin. Aber sie behaupten, das Kleeauge hätte einem der Ihren das Leben gerettet, dem
tarbh uisge
, und das Gesetz verlangt, dass sie ein Geschenk dafür bekommt.«
    Mein Blick heftete sich auf die Königin.
    Ihre
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