Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
L wie Liquidator

L wie Liquidator

Titel: L wie Liquidator
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
Vom Netzwerk:
Zivilisationen schaffen? Bedeutete diese Anpassung, für die er sich entschieden hatte, den Verlust von all dem, was er in seinem alten Leben geliebt hatte?
    Unwillkürlich begann er den Schritt zu verlangsamen. Der Kampf, den er mit sich selbst auszufechten hatte, wurde immer erbitterter. Er wiederholte immer wieder, daß er Helia vertrauen mußte, daß er das alte Leben zurücklassen und ein neues beginnen mußte. Vielleicht ein besseres, schöneres. Doch konnte er mit keinem Argument die aufkeimenden Zweifel widerlegen: Was konnte es wert sein, wenn es die Vergangenheit restlos verschleiern sollte. Wenn es zu den Bedingungen dieses Lebens gehörte, Erlebnisse zu vergessen, die ihn, Rost, und seine Persönlichkeit geprägt hatten?
    Er blieb stehen. Er schloß die Augen und erblickte wieder den Garten, Mia und Helia.
    Er drehte sich heftig um und öffnete die Augen. Er befand sich in einem Saal, der dem ähnelte, in dem er am Tag zuvor erwacht war. Wiederum schloß er die Augen und bemühte sich, so intensiv wie möglich an das Schiff zu denken. Und diesmal bemerkte er statt des Gartens ein ausgedehntes, vom Wald umgebenes Startfeld mit der hohen, in der Sonne glänzenden interstellaren Rakete. Er ging wie ein Schlafwandler in diese Richtung, blindlings die Wände durchschreitend. Er befand sich nun in einem kleinen vieleckigen Saal, den er bis jetzt noch nicht gesehen hatte. Decke und Wände waren mit großen runden Scheiben aus dem silberglänzenden Metall bedeckt. Doch bewog ihn dieser Anblick nicht dazu, auf der Stelle auszuharren. An die Ohren Rosts drang leise, aber deutlich wahrnehmbare Musik. Das Herz in seiner Brust begann heftig zu klopfen. Ein Irrtum war unmöglich. Er kannte dieses Werk gut: Es war das Klavierkonzert, dessen Toccata ihn gestern viele Stunden lang verfolgt hatte.
    Die Musik unterschied sich von aller Musik, die er bisher gehört hatte. Ihre Schönheit konnte er nicht empfinden; sie schien ihm sonderlich und künstlich zu sein, manchmal mit für sein Ohr unerträglichen Dissonanzen. Und doch – obwohl im Prozeß der viele Jahrtausende währenden Umformungen verwandelt – war es ohne Zweifel dasselbe Werk. Die Flut von Tönen ergoß sich von allen Seiten über ihn. Ein mächtiges orgelähnliches Instrument oder gleichsam damit gemeinsam musizierende Chöre und Symphonieorchester. Wer führte dieses Werk auf? Wer hörte es? War es nur für ihn bestimmt? Er schloß krampfhaft die Lider und erblickte einen Künstler vor sich. Er stand aufgerichtet da, mit erhobenem Gesicht und halb geschlossenen Augen. In der ganzen Gestalt, in den unscheinbaren, aber schnellen Bewegungen der Hände, in dem Spiel der Gefühle, die sich im Gesicht dieses Mannes abzeichneten, lagen so viel Schönheit und Schöpfertum, daß Rost nicht die Augen von dem Anblick losreißen konnte. Er wollte sich schnellstens, im Nu bei IHM, in seiner unmittelbaren Nähe, einfinden!
    Schon hörte er die ersten Takte der Toccata – »seiner« Toccata, die vor Jahrhunderten von einem Menschen komponiert worden war, an dessen Namen er sich aber nicht erinnern konnte.
    Er ging weiter, ohne die Augen zu öffnen. Das Bild kam zwar nicht näher, verschwand aber auch nicht, aber die Musik schwoll mit jedem Schritt an, wurde mächtiger und verschlang ihn restlos. Es war für ihn jetzt nicht mehr wesentlich, ob er sie mit eigenen Ohren hörte, oder ob sie, wie die Stimme Helias, irgendwo in ihm selbst erklang …
    Das Bild verschwand plötzlich. Rost öffnete die Augen. Er sah, daß er sich auf einem riesigen Platz befand, der von der Sonne und grünem Licht überflutet war. Rings um sich erblickte er viele Menschen: Frauen, Männer, Kinder. Manche standen einzeln oder in Gruppen da, der Großteil ging ohne Eile in verschiedenen Richtungen hin und her. Wie wohlgeformt und schön sie alle waren.
    Ohne Schwierigkeit fand er den, den er suchte. Der Künstler stand unten auf einer kleinen Erhebung, von einem Kreis Gestalten umgeben. Aus dem unsichtbaren Instrument strömten die letzten Akkorde des Finales des Fünften Klavierkonzerts von Sergej Prokofjew. Jemand berührte Rost am Arm. Er drehte sich um: Hinter ihm stand Helia. Sie blickten einander wortlos in die Augen …
     
    Originaltitel: »Toccata«
    Copyright © 1980 by KAW, Warschau
    mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Agencja Autorska, Warschau
    Aus dem Polnischen übersetzt von Hanna Rottensteiner
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher