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Kurschattenerbe

Kurschattenerbe

Titel: Kurschattenerbe
Autoren: Sigrid Neureiter
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musterte den Mann, der ihm gerade die Frage gestellte hatte. Bisher war alles reibungslos verlaufen. Er hatte von seiner Kindheit in den Schweizer Bergen berichtet, seiner Liebe zur mittelalterlichen Liedkunst, die dazu geführt hatte, dass er an der Hochschule für Alte Musik in Basel studiert und dort Karriere gemacht hatte und zu einem erfolgreichen Autor geworden war. »Mir ging es immer um das breite Publikum. Ich wollte die Massen begeistern, den Männern und Frauen auf der Straße vor Augen führen, wie großartig die mittelalterliche Musik und Dichtung sind«, hatte er Beppo Pircher routiniert erklärt.
    Der Journalist machte sich eifrig Notizen und fragte: »Warum haben Sie Bücher geschrieben und nicht selbst musiziert?«
    Maurice kannte diesen Einwand, darauf war er vorbereitet. »Ich bin kein Interpret, sondern will selbst etwas erschaffen. Daher habe ich Bücher geschrieben, Science-Fiction-Romane, wenn Sie so wollen, die auf einem wahren Kern beruhen und zugleich der Fantasie freien Raum lassen. Damit kann der Leser sich in die mittelalterlichen Dichter hineinversetzen, sich vorstellen, wie sie gelebt und ihre Werke geschrieben haben. Wie man am Verkaufserfolg sieht, ist es genau das, was die Leser wollen.«
    Beppo Pircher hatte an seinem Stift gekaut und ihm die Frage nach seinem letzten Buch gestellt. Maurice konnte es dem Journalisten nicht einmal verübeln: Im Vergleich mit seinen Vorgängern, die allesamt die Bestsellerlisten erobert hatten, war das Buch tatsächlich kein Erfolg gewesen. Im Spiegel, der sich an der gegenüberliegenden Wand befand, prüfte er den Sitz seiner Krawatte, danach antwortete er: »Was heißt Flop? Mir geht es darum, möglichst viele Menschen für die mittelalterliche Dichtkunst zu begeistern. Das ist mir gelungen, da kommt es auf die Verkaufszahlen eines einzelnen Buches nicht an. Im Übrigen«, er nahm einen Schluck von seinem Macchiato, bevor er weitersprach, »im Übrigen versichere ich Ihnen, dass mein nächstes Buch über Oswald von Wolkenstein wieder ein Verkaufsschlager wird.«
    »Was macht Sie so sicher?«
    Maurice überlegte. Sollte er dem Journalisten die Neuigkeit mitteilen? Rasch traf er eine Entscheidung und fuhr fort. »Ich bin auf etwas gestoßen, das bisher nicht bekannt ist. Es ist eine Sensation für die Wissenschaft. Und meinen Lesern verspreche ich ein Buch, das alle bisherigen in den Schatten stellt.« Ein weiteres Mal führte er seine Kaffeetasse an die Lippen. Hatte er zu viel verraten? Er hatte die Sache eigentlich nicht publik machen wollen. Andererseits, was konnte es schaden, wenn er diesem eifrigen Reporter ein wenig Stoff zum Schreiben lieferte?
    Beppo Pircher stellte die nächste Frage: »Das Buch war für das Frühjahr angekündigt, doch die Veröffentlichung wurde auf unbestimmte Zeit verschoben. In der Kollegenschaft bezweifelt man, dass das Buch überhaupt publiziert wird. Was sagen Sie dazu?«
    Maurice warf einen Blick auf seine exquisite Schweizer Armbanduhr. »Es gibt immer Neider, die Gerüchte in die Welt setzen«, antwortete er. »Tatsache ist, dass das Erscheinen des Buches auf meinen Wunsch hinausgezögert wurde. Ein paar Details müssen überprüft werden. Gehen Sie davon aus, dass der Verlag bald einen neuen Termin bekannt geben wird.«
    Maurice war aufgestanden, auch der Reporter erhob sich: »Eine letzte Frage: Werden Sie die Neuigkeit auf der heutigen Pressekonferenz ankündigen?«
    Diesmal antwortete Maurice, ohne zu zögern. »Nein, die Pressekonferenz ist ausschließlich dem Symposium gewidmet. Das, was ich Ihnen gerade erzählt habe, ist exklusiv. Mehr will ich im Moment nicht preisgeben.«
    Er schüttelte dem Journalisten die Hand und geleitete ihn zur Tür. Ehe er diese öffnen konnte, wurde sie aufgerissen. Dr. Sommer stürmte ins Zimmer. Beinahe wäre sie ihm in die Arme gelaufen, konnte jedoch gerade rechtzeitig abbremsen. »Maurice, entschuldigen Sie die Störung. Ich muss Sie dringend sprechen.«
    Maurice wandte sich ein letztes Mal an den Reporter: »Wir sehen uns bei der Pressekonferenz«, sagte er zu dem Mann. Gleich darauf bat er Jennifer – er bevorzugte den vollen Vornamen – in den Ohmann-Saal und schloss die Tür.
    *
    Sascha Maximowa schaltet einen Gang zurück. Das letzte Steilstück lag vor ihr. Mit Bravour bewältigte sie die Herausforderung. Der Gipfel war erreicht und es ging wieder bergab. Sie beschleunigte, gleich darauf betätigte sie die Bremsen: Die nächste Kurve kam näher, da durfte man
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