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Krieg und Frieden

Krieg und Frieden

Titel: Krieg und Frieden
Autoren: Lew Tolstoi
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Nikolai und seine Frau kamen, um Peter aufzusuchen und fanden ihn im Hinterzimmer, wo er auf seiner ungeheuren rechten Hand den eingeschlafenen Säugling hielt. Auf dem breiten Gesicht des Kleinen mit dem zahnlosen Mund lag ein heiteres Lächeln. Der Sturm war schon lange verflogen und die helle, freudige Sonne leuchtete auf Natalies Gesicht, das zärtlich Vater und Sohn anblickte.
    »Und hast du alles mit Fürst Fedor besprochen?«
    »Ja, ganz nach Wunsch.«
    »Hast du die Fürstin gesehen? Ist's wahr, daß sie verliebt ist in diesen ...«
    »Ja, kannst du dir das vorstellen?«
    Nikolai und Marie traten ein. Ohne den Säugling aus der Hand zu legen, bückte sich Peter, um sie zu begrüßen und zu küssen und ihre Fragen zu beantworten, aber das Kind nahm seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch.
    »Wie niedlich!« sagte die Gräfin Marie. »Siehst du, das begreife ich nicht, Nikolai, daß du dafür keinen Sinn hast!«
    »Ein Stück Fleisch!« sagte Nikolai mit einem kühlen Blick. »Komm, Peter.«
    »Und er ist doch ein so zärtlicher Vater«, sagte Gräfin Marie, um ihren Mann zu rechtfertigen, »aber erst, wenn sie ein Jahr alt sind.«
    »Mein Peter versteht sie sehr gut zu hätscheln. Er sagt, seine Hand sei geschaffen, um Kinder zu wiegen.«
8
    Wie in jeder wirklichen Familie, so lebten auch in Lysy Gory mehrere ganz verschiedene Welten nebeneinander, welche, einander entgegenkommend, ein harmonisches Ganzes bildeten. Jedes Ereignis im Hause war gleich wichtig, gleich freudig oder traurig für alle diese Welten, aber jede derselben hatte ihre ganz besondere Veranlassung, sich über ein Ereignis zu freuen oder zu grämen.
    So war auch die Ankunft Peters ein wichtiges, freudiges Ereignis für alle. Die Dienerschaft, die besten Richter der Herrschaft, weil sie nicht nach Gesprächen und Gefühlsausdrücken urteilt, sondern nach den Handlungen und der Lebensweise, war erfreut über Peters Ankunft, weil sie wußte, daß der Graf nun nicht mehr so oft in die Wirtschaft gehen, aber heiterer und nachsichtiger sein werde, und außerdem, weil sie alle auf reiche Geschenke rechneten. Die Kinder und die Gouvernanten freuten sich über seine Ankunft, weil sie wußten, daß niemand sie so in das allgemeine Leben einführte wie Peter. Er allein verstand auf dem Klavier jene Ecossaise, sein einziges Stück, zu spielen, nach welcher man, wie er sagte, alle möglichen Tänze tanzen könne. Auch sie wußten, daß er Geschenke für alle mitbringe.
    Der kleine Nikolai Bolkonsky, der jetzt ein fünfzehnjähriger Knabe mit flatternden, blondlockigen Haaren und schönen Augen war, freute sich, weil Onkel Peter der Gegenstand seiner Verehrung und leidenschaftlichen Liebe war. Seine Tante gab sich alle Mühe, Nikolai Liebe zu ihrem Manne einzuflößen, und Nikolai liebte auch seinen Onkel, aber mit einem kaum merklichen Anflug von Geringschätzung, Peter aber vergötterte er. Er wollte weder Husar noch Georgenritter sein wie Onkel Nikolai, sondern gelehrt, klug und gut wie Peter. In Gegenwart Peters strahlte sein Gesicht und er errötete, wenn Peter ihn anredete. Er verlor kein Wort von dem, was Peter sagte, und sprach dann mit Desalles über die Bedeutung jedes seiner Worte.
    Aus einzelnen Reden über seinen Vater und Natalie, aus der Erregung, mit der Peter von dem Verstorbenen sprach, aus der ehrfurchtsvollen Zärtlichkeit, mit der Natalie von ihm sprach, hatte der Knabe, der eben erst das Wesen der Liebe zu ahnen begann, sich die Vorstellung gebildet, daß sein Vater Natalie geliebt und vor seinem Tode sie seinem Freunde vermacht habe. Dieser Vater, dessen der Knabe sich nicht erinnern konnte, war für ihn eine Gottheit, die man sich nicht vorstellen kann und an die er nicht anders dachte als mit tiefer Ehrfurcht und mit Tränen des Kummers und Entzückens. Darum war auch der kleine Nikolai glücklich über die Ankunft Peters. Die Gäste und die erwachsenen Hausgenossen freuten sich in Erwartung des heiteren, ruhigen Tones, den Peter in das häusliche Leben mitbringen werde. Peter verstand diese verschiedenen Standpunkte und beeilte sich, jedem das Erwartete zu übergeben. Peter, dieser zerstreute, vergeßliche Mensch, hatte jetzt nach einem Verzeichnis von der Hand seiner Frau alles eingekauft und nichts vergessen. Bei seiner ersten Reise, die er nach der Hochzeit gemacht hatte, war er erstaunt gewesen über das Verlangen seiner Frau, alles zu besorgen und nichts zu vergessen, was sie ihm auftrug, sowie über ihren ernsten Verdruß,
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