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Krieg und Frieden

Krieg und Frieden

Titel: Krieg und Frieden
Autoren: Lew Tolstoi
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als er alles vergessen hatte. Aber später gewöhnte er sich daran und verdiente von Natalie nur dafür Vorwürfe, daß er Überflüssiges und zu teuer einkaufte. Zu allen ihren Mängeln, nach Meinung der Mehrheit, und ihren Vorzügen, nach der Meinung Peters, fügte Natalie noch übertriebene Sparsamkeit hinzu. Obgleich Peter ein großes Haus führte und die Familie große Ausgaben erforderte, bemerkte er zu seinem Erstaunen, daß er gegen früher nur die Hälfte ausgab und daß seine zerrütteten Umstände sich zu bessern begannen. Mit heiterem, lächelndem Gesicht packte Peter seine Einkäufe aus wie ein Verkäufer auf dem Jahrmarkt.
    »Wie gefällt dir das?« fragte er, einen Kleiderstoff entfaltend.
    Das ist für die alte Bjelow? Vorzüglich!« Sie befühlte den Stoff. »Wahrscheinlich zu einem Rubel die Elle?«
    Peter nannte den Preis.
    »Das ist zu teuer«, sagte Natalie.
    »Wie die Kinder sich freuen werden, Mama!«
    »Aber es ist überflüssig, daß du mir das gekauft hast«, fügte sie hinzu, indem sie mit Wohlgefallen einen goldenen Kamm mit Perlen betrachtete, wie sie damals in Mode kamen.
    »Adele bestand darauf, ich solle es durchaus kaufen.«
    »Dann werde ich den Kamm tragen.« Sie steckte ihn in ihren Zopf.
    »Nun komm!« Sie nahmen die Geschenke zusammen und gingen zuerst ins Kinderzimmer, dann zur alten Gräfin. Diese saß wie gewöhnlich mit der Bjelow bei einer Patience, als Natalie und Peter mit den Paketen unter den Armen eintraten. Die Gräfin war schon sechzig Jahre alt und ganz grau, sie trug ein Häubchen, das ihr Gesicht mit einer Rüsche einfaßte. Es war ganz faltig, die Oberlippe fast verschwunden und die Augen trübe. Nach den so rasch aufeinander folgenden Todesfällen des Sohnes und ihres Mannes fühlte sie sich als ein Wesen, das weder Zweck noch Sinn hatte. Sie aß, trank und schlief, aber das war kein Leben. Das Leben gab ihr keine Eindrücke mehr und sie erwartete nichts mehr von ihm als Ruhe, die sie aber erst im Tode finden konnte. Was man bei sehr kleinen Kindern und sehr alten Leuten beobachten kann, das zeigte sich im höchsten Grade auch bei ihr. Ihr Leben hatte keinen äußeren Zweck mehr und augenscheinlich bestand es nur in dem Bedürfnis, ihre verschiedenen Neigungen und Fähigkeiten in Tätigkeit zu setzen. Sie mußte essen, schlafen, nachdenken, sprechen, weinen, sich ärgern und so weiter, weil sie einen Magen, Gehirn, Muskeln, Nerven hatte. Das alles tat sie infolge innerer Notwendigkeit. Sie sprach nur, weil sie physisch das Bedürfnis hatte, ihre Lungen und Zunge in Bewegung zu setzen. Das, was für Menschen von voller Lebenskraft Zweck ist, war für sie nur Vorwand. So äußerte sich bei ihr morgens, besonders wenn sie am vorhergehenden Tag etwas Fleischiges gegessen hatte, das Bedürfnis, sich zu ärgern, und dazu wählte sie den nächsten Vorwand, die Taubheit der alten Bjelow. »Heute scheint es etwas wärmer geworden zu sein, meine Liebe«, flüsterte sie am anderen Ende des Zimmers, und wenn ihre alte Genossin erwiderte: »Nun ja, er ist angekommen!« knurrte sie zornig: »Mein Gott, wie taub und dumm!« Ein anderer Vorwand war der Schnupftabak, welcher bald zu trocken, bald zu feucht war. Nach diesen Erregungen floß ihr die Galle ins Gesicht, und ihre Zofe wußte an sicheren Anzeichen, wann wieder die alte Bjelow taub und wann der Tabak wieder feucht sein werde, und wann ihr Gesicht wieder gelb werden würde. In gleicher Weise mußte sie auch zuweilen die ihr noch verbliebene Fähigkeit, zu denken, in Tätigkeit setzen, und dazu diente die Patience. Wenn sie weinen mußte, so war ihr Vorwand der verstorbene Graf, wenn sie das Bedürfnis nach Besorgnissen empfand, so lieferte Nikolai und seine Gesundheit den Vorwand, wenn sie giftige Reden ausstoßen wollte, so war die Gräfin Marie der Vorwand, wenn sie die Organe der Stimme üben mußte, wie gewöhnlich gegen sieben Uhr im dunklen Zimmer nach der Verdauung, so lieferten ihr immer dieselben Geschichten den Stoff, die sie immer denselben Zuhörern erzählte.
    Diesen Zustand der Alten begriffen alle Hausgenossen, obgleich niemand darüber sprach, und alle bemühten sich, diese Bedürfnisse zu befriedigen. Nur zuweilen sagte ein flüchtiger Blick und ein betrübtes Lächeln zwischen Peter, Nikolai, Natalie und Marie, daß sie ihren Zustand verstanden, daß sie ihre Aufgabe im Leben erfüllt habe, daß das, was jetzt noch an ihr sichtbar, nicht ihr ganzes Wesen sei, und daß sie alle einst ebenso sein werden
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