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Kreuzweg

Kreuzweg

Titel: Kreuzweg
Autoren: Diane Broeckhoven
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hätte ich ihr möglicherweise mein Geheimnis noch im Nachhinein anvertraut. In fließendem Französisch. Stattdessen erhielt ich die Antwort aus dem Internat, Schwester Bénédicte sei nicht länger Teil der Klostergemeinschaft und habe das Pensionat vor ein paar Jahren verlassen. Es sei ihnen nicht gestattet, Dritten ihren weltlichen Namen oder ihre Anschrift mitzuteilen.
    Matteo traf ich erst zwölf Jahre später wieder auf einer Ausstellung in New York, wo er damals mit seiner besseren Hälfte wohnte. Er war ein richtiger Yuppie geworden. Ein berühmter Schmuckdesigner, in schwarzem Maßanzug und mit glänzenden Locken, in denen sich der Wohlstand widerspiegelte. Er nannte mich
darling
und
sweetheart
, behauptete, ich sei immer noch genauso
cute
wie damals. Er holte mir ein Glas Champagner und fragte, ob ich mich noch daran erinnere, wie schlecht mir damals auf dem Empfang im Rathaus geworden war? Wir lachten gemeinsam über unsere Jugendsünden: seine Sandalen und knappen T-Shirts in falschen Farben, meine formlosen Jogginghosen und die Strickwesten. Camouflage-Kleidung nannte er sie.
    «
Christ
, wie dick du warst! Du hast dich damals ja ganz schön gehen lassen», frotzelte er. «Ich dagegen bin spindeldürr geworden, nachdem mein Vater gestorben war, aber offenbar hast du den Bonbons und dem Eis inzwischen abgeschworen.
You look gorgeous
», sagte er, indem er mitden Fingern an meiner Hüfte entlangfuhr, über den Seidenstoff meines Kleids, der wie die Haut eines Fischs schimmerte. Mich schauderte.
    Nach ungefähr einer Stunde in seiner Welt des Glitzers und Glamours stieg ich todtraurig in ein Taxi und ließ mich zu meinem Hotel bringen. Matteo war für mich noch immer ein Freund, bei dem es egal ist, wie oft man sich sieht. Trotzdem war ich froh darüber, dass ein ganzer Ozean zwischen uns lag. Das machte es leichter, der Versuchung zu widerstehen, noch mehr Erinnerungen an das letzte Schuljahr aufzufrischen.

FÜNFZEHNTE STATION:
J.s Wiederauferstehung aus dem Grab.
    Mein Vater lag kreidebleich im Krankenhausbett. Ab und zu ging ein Zucken durch seine geschlossenen Lider, seine steifen Finger tasteten nervös auf dem Laken herum.
    «Spasmen», erklärte ein Arzt, der mit einem Mal neben mir stand. Ich hatte ihn nicht hereinkommen hören auf seinen weißen Leisetretern. «Machen Sie sich nicht zu viel Sorgen. Er ist außer Lebensgefahr.»
    Es folgte ein Bericht über Herzklappen, Bypässe und Überbrückungen, den ich nicht wirklich zu mir durchdringen ließ. Wenn er außer Lebensgefahr war, wieso haben wir das Gespräch dann nicht am Telefon geführt? Wieso musste ich augenblicklich hierherkommen?
    Als ich wieder allein war mit dem fremden alten Mann, der mein Vater war, rückte ich einen Stuhl näher ans Bett. Ich sah mir sein eingefallenes, graues Gesicht genauer an und versuchte, in den Zügen seiner schlaff gewordenen Haut irgendwelche Spuren von früher zu entdecken. Ich hoffte, er würde seine Augen aufmachen und in der Lage sein zuzuhören. Zu reden. Es gab ein paar simple, praktische Dinge, die wir miteinander besprechen mussten. Das war alles. Ich würde ihm erzählen, dass ich heute Abend, beziehungsweise spätestens morgen früh, den Thalys nach Paris nehmen würde. Dass ich nicht länger bleiben könne, da ich mitten in den Vorbereitungen zueiner wichtigen Ausstellung steckte. Ruhigen Herzens würde ich wieder heimfahren, da der Arzt mir ja versichert hatte, er würde durchkommen. Ich fand, ich hatte meine Pflicht als Tochter getan. Nach einem alarmierenden Anruf aus dem Krankenhaus hatte ich alles stehen und liegen lassen. Ohne mir auch nur die Zeit zu nehmen, die Farbe gründlich von den Händen zu waschen: Es sah aus, als habe ich Blut und geronnenes Sonnenlicht daran.
    Es lag fast zehn Jahre zurück, dass ich meinen Vater zuletzt gesehen hatte. Seltsamerweise begann es zu zehren. An ihm, aber auch an mir. Kurz vor seinem Herzinfarkt hatte ich ihn eingeladen, mich doch einmal zu besuchen. Er gestand, Jahre auf diesen Moment gewartet zu haben.
    Gegen Ende des Sommers würde er zum ersten Mal in seinem Leben nach Paris kommen, zum ersten Mal das Haus betreten, das ich schon seit Jahren bewohnte und das mir wie ein maßgefertigter Schuh passte. Er würde an meinem fünfzigsten Geburtstag bei der Vernissage zu meiner Ausstellung in einer der bekannteren Galerien anwesend sein. Er würde meine Freunde und meine Arbeit sehen. In der Woche, die er danach bei mir verbringen würde, wollte ich mit
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