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Kreuzblume: Historischer Roman (German Edition)

Kreuzblume: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Kreuzblume: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Andrea Schacht
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Schreckliche Gerüchte erreichten die eintreffenden Kölner. Im belagerten Mainz grassierten Krankheit und Hunger, der Typhus forderte seine Opfer, und hin und wieder zogen Wagen mit jämmerlich aussehenden Kranken an ihnen vorbei. Dann, am 15. Februar, ereilte schließlich Corporal Wilhelm Dahmen der Befehl, mit seinen Männern über den Rhein zu setzen und den Mainzern Verstärkung zu bringen.
    Toni litt unter Frostbeulen und lernte erstmals in ihrem Leben Hunger kennen. Ihre Mutter war nur noch selten fröhlich, und auch als der Frühling endlich anbrach, blieb sie bedrückt. Hin und wieder nur erhielten sie kleine Botschaften aus der belagerten Stadt, aber wenigstens schienen Wilhelm, Peter und Stephan zu überleben. Ihre Zeit verbrachte Elisabeth damit, immer neue Versorgungsquellen zu erkunden, und oft nahm sie Toni auf ihre Streifzüge über das Land mit. Erst im Sommer besserte sich die Lage, das Essen wurde reichhaltiger und abwechslungsreicher, die Krankheiten gingen zurück.
    Im Oktober erlebte Toni ihre erste Schlacht. Von Weitem natürlich, denn ihr Lager befand sich außerhalb der Kampflinien. Österreichische Truppen stürmten Mainz, und die Franzosen flohen. Der Geruch von Pulver und Brand wehte zu ihnen, und die aufpeitschende Musik der Spielleute vermischte sich mit den Schüssen und dem Schreien der Männer. Es dauerte einen halben Tag, dann brachten sie Wilhelm auf einer Trage zum Marketenderzelt zurück, und Toni sah ihre Mutter blass werden. Er hatte eine Schusswunde in der linken Schulter erhalten, und der Feldscher wollte ihn, nachdem er die Kugel entfernt hatte, ins Lazarett einweisen. Elisabeth, inzwischen gut vertraut mit den unsäglichen Zuständen dort, fuhr ihn an wie eine Tigerin. Einige Tage später ließen sie sich in einem Dorf auf hessischem Gebiet nieder, wo sie eine kleine Kate bezogen. Hier pflegte Elisabeth ihren Mann gesund.
    Toni lernte Verbände wickeln, den Geruch von Krankheit, Blut, Eiter und Fieberschweiß ertragen, half ihrem Vater, Suppe zu löffeln und seine Kissen zu richten. Mit Elisabeth lernte sie beten. Vor allem zur heiligen Ursula, von der ihre Mutter ein kleines Bildchen besaß. Eine eigenwillige Frömmigkeit wurde ihr damit beigebracht. Bestimmte Gebete kannte sie inzwischen auswendig, plapperte sie nach und glaubte fest daran, damit die Heilige bewegen zu können, ihren Vater zu heilen. Ob es nun diese Bitten waren oder die Natur ihren Lauf nahm – Wilhelm genas langsam, und als es ihm besser ging, brachte er Toni das Stricken bei. Im Juni des nächsten Jahres war er so weit gesundet, dass er wieder seinen Dienst antreten konnte.
    Elisabeth befüllte ihren Marketenderwagen und zog mit Mann und Kindern Richtung Mainz, das aufs Neue umkämpft wurde. Tonis Erinnerungen an diese Zeit wurden für immer beherrscht von dem Geruch nach beißendem Pulverdampf, Pferden, Schweiß und Blut. Raue Stimmen, die Befehle brüllten oder vor Schmerzen schrien, Trommeln und Pfeifen, die zum Kampf riefen, manchmal wilder Gesang und das Wiehern der Pferde. Geschützfeuer konnte sie von Gewehrsalven unterscheiden, Mörser von Kanonen. Jupp und Franz, jetzt alt genug, um sich nützlich zu machen, waren Pferdeburschen geworden und gebärdeten sich, wenn sie denn gelegentlich bei Elisabeth vorbeikamen, wie harte Männer. Toni wäre ihnen gerne gefolgt, aber ihre Mutter hatte es ihr strikt verboten. So half sie ihr beim Zubereiten der Mahlzeiten, strickte Strümpfe und schnappte von den anderen Lagerbewohnern die seltsamsten Kenntnisse auf. Häufig begegneten sie Emigranten aus Frankreich, die vor der Revolution geflohen waren und nun auf Seiten der Österreicher und Deutschen kämpften. Ihre Sprache lernte sie genauso leicht wie die Grundlagen des Rechnens und des Feilschens. Lesen brachte ihr Elisabeth anhand eines kleinen Breviers mit Heiligengeschichten bei, und als Toni auch diese Kunst bewältig hatte, war sie beständig auf der Suche nach Lektüre.
    Im Grunde war ihr Leben von ständiger Unsicherheit geprägt, von Gefahren und Not, von Gewalt und Kampf um sie herum, und dennoch gelang es ihrer Mutter – und ihrem Vater, wann immer er Zeit für sie erübrigen konnte -, ihr einen festen Halt in dieser chaotischen, von Aufruhr und Umsturz bestimmten Zeit zu geben. Ihre wichtigste Erfahrung aus der wirren Welt ihrer Kindheit war die, dass man aus jeder noch so verfahrenen Situation etwas machen konnte – wenn man es nur wollte.

Der Mann am Pranger
     
    Ah! ça ira, ça ira, ça
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