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Kräuter-Code: Zehn Kurzgeschichten aus dem schwulen Leben (German Edition)

Kräuter-Code: Zehn Kurzgeschichten aus dem schwulen Leben (German Edition)

Titel: Kräuter-Code: Zehn Kurzgeschichten aus dem schwulen Leben (German Edition)
Autoren: Raik Thorstad , Jannis Plastargias , C. Dewi , Gerry Stratmann
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nicht verstehen und Noah sich nicht erklären können. Wie hätte er
erklären sollen, dass er nach all den Jahren, in denen ihm die Blicke nichts ausgemacht hatten, plötzlich empfindlich für sie geworden war?
    Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus hatten die Blicke ihn kalt gelassen. Damals war sein Körper ausgezehrt gewesen, aber noch immer sehnig und agil. Bei seiner ersten Erkundungstour
auf der Straße war Sebastian an seiner Seite gewesen. Er war ruhig neben Noah spaziert, hatte von Zeit zu Zeit seine Schulter berührt, sie hatten gelacht. Zwei attraktive, athletische
junge Männer, Polizisten in Zivil, von denen einer wie zufällig im Rollstuhl saß.
    Noah versuchte sich einzureden, dass es an seinem veränderten Körper lag. Dass er einmal zur Motorradstaffel gehört hatte, konnte man kaum mehr erahnen. Die Muskeln, auf die er
früher nicht einmal viel gegeben hatte, waren verkümmert, und er musste sich eingestehen, dass er immer mehr den Männern glich, die er in der Reha gesehen hatte: weiche Körper,
zusammengesunken und formlos, wie Teigmasse, die sich zusammenzog, wenn man sie zu lang unbearbeitet liegen ließ. Wenn er in den Spiegel blickte, sah er die gleichen dürren Arme mit den
abgeknickten, immerwährenden kleinen Fäusten im Schoß ruhen. Ein Blick auf der Straße genügte nun und er spürte, wie etwas in seinem Bauch ganz schwer wurde. Zwei
zusammengesteckte Köpfe ließen ihn beschämt das Weite suchen. Er wollte nicht auf die Straße, wollte nicht ausgehen und hatte erst recht nicht zu dieser Hochzeit fahren
wollen, weil er sich nicht mehr sicher fühlte.
    »Außerdem hat der Bräutigam einen Bruder, der geistig behindert ist. Der wird auch da sein«, hatte Sebastian hinzugefügt.
    Noah hatte ihn angestarrt, hatte einen langen Moment gebraucht, bis Sebastians Worte einen Sinn ergaben. Da war es wieder, dieses Gefühl, als würde sich eine Faust langsam in seinen
Magen bohren.
    »Das hast du jetzt nicht gesagt ...«
    Sebastian hatte ihn verwundert angesehen, bevor sich seine Augen weiteten. »Nein, Noah. Ich wollte doch nur sagen, dass der ganze Familienkreis kein Problem mit einem Rollstuhl hat. Sie
kennen das schon. Um Gottes willen, ich meinte doch nicht ...«
    Noah hatte nichts mehr gesagt. Er hatte sich zur Hochzeit fahren lassen, hatte der Trauung still beigewohnt, hatte brav sein Stück Torte gegessen und hatte sich mit allen anderen
Gästen im Kreis um die Tanzfläche versammelt, als sie dazu aufgefordert wurden. Noah hatte erst beim Einsatz der Musik verstanden, dass der Hochzeitstanz bevorstand. Das Paar hatte
traditionell mit einem Walzer eröffnet, und als im letzten Drittel des Stücks die Gäste aufgefordert worden waren, mit einzusetzen, hatte Noah Sebastians Hand zwischen seinen
Schulterblättern gespürt und sich in einvernehmlichem Schweigen zum Tisch zurückbringen lassen.
    6
    Noah betrachtete Sebastians Arme, während dieser eine Decke über ihn breitete, betrachtete die Sommersprossen, die sich über die Haut zogen, die runden Wölbungen der Muskeln
und ihre Bewegungen, die sich unter dem Stoff seines Shirts abzeichneten.
    Nachdem er ihn flach auf die Seite gebettet hatte, ließ sich Sebastian mit einem Seufzen neben Noahs Kopf auf das Sofa fallen. Noah spürte die Wärme, die von seiner Hüfte
ausging, nahm den Geruch von Weichspüler, Deo und frisch geduschtem Sebastian wahr und schielte zu dessen Gesicht hoch. Seine fast ekelerregend blauen Augen schauten zwischen dunkelblonden
Wimpernkränzen hindurch in den Fernseher, die Fernbedienung in seiner großen Hand. Ein an Fußbodenheizung gewöhnter nackter, sehniger Fuß schaute unter dem
überschlagenen Bein heraus, und ein etwas schräg stehender kleiner Zeh bewegte sich kaum zwei Handbreit von Noahs Nase entfernt. Noah betrachtete den Mann neben sich und in einem
plötzlichen Bedürfnis nach Nähe legte er ihm die Hand auf den Schenkel. Sebastian sah kurz zu ihm runter, ein Lächeln, dann verschwand Noahs kleine klamme Faust in seiner Hand
und Sebastian jagte weiter nach einem erträglichen Nachmittagsprogramm durch die Kanäle. Geistesabwesend fuhr sein Daumen über Noahs Finger, darauf bedacht die verkürzten Sehnen
seiner Funktionshand nicht aufzudehnen, während Noah wieder der immer beklemmender werdende Gedanke durch den Kopf schoss, dass Sebastian noch immer großartig aussah. Er war groß
und sportlich und blond, mit einem gutmütigen Gesicht und damit eigentlich gar nicht Noahs
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