Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kopernikus 5

Kopernikus 5

Titel: Kopernikus 5
Autoren: H. J. Alpers
Vom Netzwerk:
auf seine verquollenen, fast gefühllosen Hände. Der linke Arm war kaum noch zu gebrauchen.
    Dann rastete endlich das Zielgerät mit nahezu unhörbarem Klicken in seine Führungsschiene ein.
    Aufatmend entriegelte Goldberg den Verschluß, wischte sich noch einmal die Hände ab und nahm dann mit spitzen Fingern eine der Spezialpatronen mit den quecksilbergefüllten Hohlgeschossen aus ihrem Fach.
    Der Sergeant trat unruhig von einem Fuß auf den anderen und stieß dabei seinen Ellbogen an. Einen entsetzlichen Moment lang drohte die kleinkalibrige Patrone Goldbergs tauben Fingern zu entgleiten und irgendwo im knöcheltiefen Schlamm zu verschwinden.
    Er drehte sich sehr langsam um, das schmutzverkrustete Gesicht bleich und verzerrt vor Wut. „Sergeant, wenn Sie auch nur den kleinen Finger rühren, ehe ich fertig bin, breche ich Ihnen mit bloßen Händen das Genick, das schwöre ich Ihnen.“
    Der Posten sah seine Augen und wußte, daß es ihm ernst war. Er zuckte zurück und sagte lahm: „Ich wollte ja nur, ich meine … Komisches Gewehr haben Sie da, Sir.“
    Goldberg antwortete nicht und ließ mit der unendlichen Sorgfalt eines Uhrmachers die Patrone in den Lauf gleiten. Gutgeölter Stahl klickte sanft gegen gutgeölten Stahl, als er den Verschluß verriegelte.
    Er atmete tief durch. „Wie spät, Sergeant?“
    Der Posten klappte mit beflissener Hast seine Taschenuhr auf. „Zwei Uhr einundzwanzig, Sir. Aber ich habe doch gerade erst …“
    Goldberg nickte stumm und sah mit zusammengekniffenen Augen hinüber zu den deutschen Linien. Jetzt mußte er eigentlich schon unterwegs sein.
    Mit einem Daumendruck schaltete er den winzigen Infrarotscheinwerfer des Zielgerätes ein, schob die Optik auf extreme Weitwinkelstellung und legte das Gewehr an. Beide Ellbogen auf die feuchtkalte Sandsackbarriere gestützt, schwenkte er im Zeitlupentempo das Schußfeld ab.
    Nichts.
    „Sind Sie auch sicher, daß Ihre Uhr richtig geht, Sergeant?“ Goldberg merkte plötzlich, daß er vor Anspannung buchstäblich zu atmen vergessen hatte. Sein Puls hämmerte wie bei einem Ertrinkenden und trieb mit jedem Schlag Wellen des Schmerzes durch die vereiterte Hand.
    Der Sergeant räusperte sich und murmelte etwas, doch Goldberg schüttelte nur hastig den Kopf. Am Rand seines Gesichtsfelds war eine schmale, untersetzte Gestalt aufgetaucht.
    Sie schwang sich ungeschickt über den Grabenrand und hastete dann mit eckigen Bewegungen zwischen den Stacheldrahtsperren hindurch. Auf dem grünlichen Bildschirm des Zielgeräts wirkte die Szene so irreal, als sei sie eine Einstellung aus einem altmodischen Horrorfilm.
    Goldberg sah die Kuriertasche, die an einem langen Riemen von der Schulter des Soldaten pendelte, und wußte, daß er sein Opfer gefunden hatte. Ganz ruhig schwenkte er mit der dahinhastenden Gestalt mit, bemüht, den Meldegänger stets voll im Fadenkreuz zu halten, und schob dabei die Zoomoptik auf volle Vergrößerung. Das hagere Gesicht des Soldaten schien lautlos heranzuschweben, bis es sein Blickfeld nahezu ausfüllte.
    Er sah halbverhungert und hohlwangig aus und war offensichtlich mit den Nerven vollkommen am Ende. Die dunklen Augen unter dem Rand des zerkratzten Stahlhelms waren angstvoll aufgerissen; der kleine buschige Schnurrbart zuckte unkontrolliert wie ein gefangenes Tier.
    Das also ist er, dachte Goldberg müde und versuchte, das verstörte Knabengesicht auf dem Bildschirm mit jenem anderen Bild zur Deckung zu bringen, das er gekannt hatte, seit er denken konnte.
    Das alles, um einen verängstigten kleinen Jungen aus dem Hinterhalt zu erschießen. Wie harmlos er aussieht. Sicher, in ein paar Tagen wäre er achtzehn geworden.
    Er wunderte sich, daß es ihm so schwerfiel.
    Zum Teufel, was soll’s, dachte er schließlich. Um sentimental zu werden, ist das wohl kaum der richtige Moment. Ein dreckiger Job mehr. Der letzte. Und der wichtigste von allen.
    Goldberg atmete langsam aus und zog ganz ruhig den Abzug durch. Sein Gesicht wirkte vollkommen ausdruckslos, eine kalte, beinahe abwesende Maske. Die Linien des Fadenkreuzes schnitten sich genau zwischen den gehetzten Augen unter dem feldgrauen Stahlhelm.
    Dann, im entscheidenden Sekundenbruchteil, als Goldbergs Zeigefinger unwiderruflich den Druckpunkt überschritten hatte, stolperte der Soldat. Die Präzisionsmechanik des Gewehrs lief ab wie ein gutgeöltes Chronometer; der Schuß löste sich, während der Meldegänger noch immer einen ungeschickten Purzelbaum schlug und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher