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Komm

Titel: Komm
Autoren: Janne Teller
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Berechnung .
    Die Welt ist, wie sie ist. Man muss sich arrangieren.
    Es ist Mitternacht vorbei. Wenn der Schnee wieder zunimmt, wird ihre Spur bald verschwunden sein. Wenn er so wie jetzt fällt, wird es noch bis zum Morgendämmern dauern.
     
    Gründet nicht auch die Phantasie in gewissem Maße auf der Wirklichkeit?
     
    Warum schreibt sie nicht einfach ein Buch über den Autor und das, was er getan hat? So einen richtig schönen altmodischen Charaktermord?
    Das wurde schon gemacht. Das lässt sich wieder machen.
     
    Er geht einige Passagen in seiner Rede zurück:
     
    Könnte der Künstler durch die erzwungene Herausforderung seiner Vorstellungskraft seine Grenzen überschreiten und mit seiner Kunst mehr erreichen?
     
    Ist es nicht auch unethisch, einen verheirateten Mann anzusehen, wie Petra Vinter es tut?
    In ihn hineinzusehen.
     
    Bruchstücke. Manche lang, manche nur ein paar Seiten, manche nur ein paar Sätze. Er hat den Umschlag in der Herstellung auf dem Regal für März gefunden.
    Ein Vorfall, der nie beschrieben wird.
    Zerstörtes Parkett und der Geruch von Salz, Tang und verfaulendem Kleinfisch.
     
    Dreiundzwanzig.
     
    Kann alles erzählt werden, ohne erzählt zu werden?
     
    »Komm«, sagt sie leise, die Stiefel im Schnee eingesunken und das Gesicht auf die segelnden Flocken und ihn gerichtet.
     
    Einmal hat er es getan.
    Ist zu Lula gegangen. Zwei Jahre später. Er hatte sich entschlossen, ein anderes Leben zu führen. Die Erwartungen zu ignorieren. Keinen Tag mehr zu erleben, an dem er aufstehen und ein Gesicht aufsetzen würde, das nicht das seine war. Ein Gesicht, das mittlerweile so sehr das seine geworden war, dass er sogar schon damit schlief. Er wollte wieder derjenige sein, der er einmal war, glaubte gewesen zu sein. Wollte mit ihr zusammen sein. Ständig.
    Es war zu spät.
    Er klingelte an ihrer Tür, und sie machte auf. Ein Kind im Arm, und erst da fiel ihm auf, dass zwei Namen an der Tür standen.
    Selbstverständlich war es zu spät.
    Er ging wieder nach Hause.
    Man ist genötigt, praktisch zu sein. Sich zu arrangieren.
     
    Er legt den Umschlag beiseite und schiebt das Manuskript des Autors an den Rand des Tisches. Geht zum Sofa, zieht die Schuhe aus und faltet die Decke auseinander, bevor er das Licht löscht und sich hinlegt.

XXIX
    W arum nicht?
    Es gibt zwei Gründe: Menschen, die ausschließlich handeln, um sich selbst zu fördern, sind zu uninteressant, um ein Buch auszumachen. Und zweitens, und wichtiger: dann wäre ich selber nicht besser. Letzten Endes kann ich gut damit leben, was der Autor mir zugemutet hat. Das ändert nichts daran, wer ich bin.
    Nur was ich selbst tue, entscheidet, wer ich bin.
    Die Geißel des Autors ist, wie der Autor zu sein.
     
    Was tust du denn, Petra Vinter? Wer bist du?
    Und was ist mit mir?
    Was ist meine Geißel?
    Aber Petra Vinter hat sich umgedreht und entschwindet über den Schnee, ohne Spuren zu hinterlassen, die erzählen, wohin. Er wälzt sich auf die andere Seite und schläft wieder ein.
     
    Er hat von seiner Frau geträumt. Hat davon geträumt, wie es hätte werden sollen und nicht geworden ist. Ist es sein Fehler? Ist es ihrer? Oder war alles von Anfang an falsch angelegt? Oder haben sie einfach gemeinsam einem Bild zu entsprechen versucht, das nur dazu beitrug, einander noch fremder zu werden als zu Beginn?
    Gilt das nicht für alle? Ist das Leben nicht so?
     
    Nein, Petra Vinter schüttelt den Kopf.
    Wie denn dann?
    Sag es! Sag es!
    Du weißt es doch.
     
    Männer sind feige. Sie wagen es nicht, ein Leben ohne eine Frau zu führen.
    Frauen sind feige. Sie wagen es nicht zu sagen, dass Männer feige sind.
     
    Er schüttelt über sich selbst den Kopf. Schlägt die Decke zur Seite und richtet sich auf. Stützt das Gesicht in die Hände. Sitzt eine Weile so da.
    Die Rede! Er schaut auf die Uhr an der Wand. Die Leuchtziffern zeigen drei Uhr zweiunddreißig. Noch vier Stunden, bis er am Flughafen sein muss. Falls überhaupt geflogen wird. Er steht auf und geht zum Schreibtisch. Er ist eingeschlafen, ohne zu Hause anzurufen. Seine Frau hat auch nicht angerufen. Er überfliegt die sechs Seiten, die er ausgedruckt hatte, bevor er sich hinlegte. Schiebt sie an die Ecke des Tisches und geht ins Badezimmer.
    Wie einfach es wäre auf die Art! Bloß aus dem einen Leben hinaus- und zu einem anderen weiterzugehen. Ohne jemals anzurufen oder abzurechnen. Bloß die Tür hinter sich zumachen und gehen, wohin einen die Füße
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