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Königskinder

Königskinder

Titel: Königskinder
Autoren: Gernot Gricksch
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Prospekt einer Privatschule für Hochbegabte.
     
    So wurde ich also nach nur einem Jahr von der Grundschule Schimmelmannstraße wieder abgemeldet, was keinen meiner Mitschüler interessierte. Ab dem zweiten Schuljahr besuchte ich dann die Rudolf-Mößbauer-Schule in Hamburg-Altona, benannt nach dem Nobelpreisträger, der die Resonanzabsorption der Gammastrahlung erforscht und den sogenannten Mößbauer-Effekt in den Physikbüchern dieser Welt verankert hatte. Herr Mößbauer war unbestreitbar ein verdienter Wissenschaftler, dennoch wünschte ich mir damals, dass man meine neue Schule nach jemandem mit einem weniger witzfähigen Namen benannt hätte. Von den Jungen der Haupt- und Realschule, die unserem Bildungstempel direkt gegenüberlag, wurden wir Eliteschüler von der Mößbauer nämlich immer nur als »die Mösenkauer« verhöhnt. Ich verstand erst später, was das genau bedeutete, ahnte aber vom ersten Tag an, dass es irgendwie Pfui war. Andererseits: Wenn man die Liste aller naturwissenschaftlichen Nobelpreisträger durchgeht, sind wir mit Mößbauer eigentlich noch ganz gut gefahren. Ich sage nur: Schwinger, Cockcroft, Lederman und Wallach.
    Meine Eltern zögerten zunächst, mich in der »Besondersschule« anzumelden, wie ich die Mößbauer-Schule hartnäckig nannte und so bei ahnungslosen Zuhörern mehr als einmal die irrtümliche Annahme hervorrief, ich wäre am gänzlich anderen Ende des IQ-Spektrums angesiedelt. Denn nicht nur, dass mein Vater mich jeden Morgen mit seinem BMW durch die halbe Stadt nach Altona fahren und meine Mutter mich einige Stunden später dann wieder mit ihrem Simca 1100 abholen musste, meine Eltern waren sich zudem nicht sicher, ob ich inmitten lauter kleiner Genies nun erstmals Freunde finden oder aber womöglich noch mehr vereinsamen würde. »Andererseits«, sagte meine Mutter schließlich seufzend, »kann es dort auch nicht schlimmer für ihn sein als in der Schimmelmannstraße. Dort gibt es wohl wirklich niemanden, der zu ihm passt.«
    *
    Ich kam auf die Schule an der Schimmelmannstraße. Fünf meiner Freundinnen aus dem Kindergarten wurden gemeinsam mit mir dort eingeschult, aber nur drei davon in meine Klasse. Ich machte mir trotzdem keine Sorgen. Drei Freundinnen waren immerhin schon mal ein Anfang. Ich würde sicher bald noch mehr Mädchen finden, mit denen ich mich verstand. Ich sammelte nämlich Menschen.
    »Menschen sind die Stützpfeiler der Seele«, sagte meine Mutter häufig. Vielleicht hatte sie deshalb so oft Männer über Nacht da. Zum Abstützen. Ich verfolgte einen etwas anderen Ansatz und hatte Freundinnen für alle Lebenslagen: Monika und Babsi zum Toben, Ines zum Kartenspielen, Susanne und Sabine, die Schlüter-Zwillinge, zum Schwimmen gehen. Und dann gab es da noch Anja, die hatte ein Pony. Ansonsten war sie allerdings zu nichts zu gebrauchen.
    Ich fand die Schule okay. Es dauerte allerdings eine Weile, bis ich die Grundregeln begriffen hatte. Die ersten Wochen sprang ich mitten im Unterricht gerne mal auf und rannte einfach nach draußen, weil ich durch das Fenster etwas Interessantes gesehen hatte oder ich mit den Blättern zusammen durch den Wind wirbeln wollte. Ich hatte auch so mein Problem mit dem Konzept des »Meldens«. Wenn ich etwas zu sagen hatte, war es nahezu unmöglich, es so lange zurückzuhalten, bis die Frau Lehrerin sich endlich mal bequemte, mir das Wort zu erteilen. Es platzte einfach so aus mir heraus.
    Mein größtes Problem allerdings war die Pünktlichkeit. Ich erwähnte es ja bereits. Während ich irgendwann lernte, dass man im Unterricht sitzen bleiben und seinen Rededrang beherrschen musste, erschloss sich mir das Wenn-es-klingelt-muss-man-in-der-Klasse-sein -Konzept stets nur theoretisch. Ich habe neulich meine gesammelten Zeugnisse noch einmal angeschaut und es gab nicht ein einziges, in dem nicht meine chronischen Verspätungen bemängelt wurden. In der dritten Klasse hatte meine Lehrerin mit einem seltenen Anflug von Humor geschrieben: Simone ist ein (leider an vielen Tagen zu spät von ihrer Mutter) aufgewecktes Kind.
    Doch nicht nur die Kritik an meiner unorthodoxen Form der Zeitbetrachtung zog sich durch alle Leistungsberichte. Es gab ebenfalls kein einziges Zeugnis, in dem ich nicht als lebendiges Mädchen bezeichnet wurde. Wie bescheuert! Natürlich war ich lebendig. Als ob man Tote unterrichten könnte. Stand bei Anja etwa: Sie ist ein artiger Zombie oder bei Ines: Für ein Kind auf der Schwelle zum Tode passt sie in
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