Knochenarbeit: 2. Fall mit Tempe Brennan
einer Sekte namens Himmlischer Pfad in Montreal, verließ sie aber bald wieder. Wie Daniel Jeannotte wanderte sie von Gruppe zu Gruppe und tauchte schließlich 1980 in Belgien auf, wo sie eine Mischung aus Schamanismus und New-Age-Spiritualismus predigte. Wieder scharte sie eine Anhängerschaft um sich, darunter auch einen wohlhabenden Mann namens Jacques Guillion.
Boudrais hatte Guillion schon zuvor im Himmlischen Pfad kennengelernt und sah in ihm die Lösung ihrer finanziellen Probleme. Sie zog Guillion in ihren Bann und überredete schließlich, ihr seine Immobilien und Vermögenswerte zu überlassen.«
»Und niemand protestierte?«
»Die Steuern wurden bezahlt, und Guillion hatte keine Familie, also entstanden keine Fragen.«
»Mon Dieu.«
»Mitte der Achtziger verließ die Gruppe Belgien und kam in die Vereinigten Staaten. In Fort Bend County, Texas, wurde eine Kommune gegründet, und Guillion reiste ein paar Jahre lang zwischen Europa und den USA hin und her, wahrscheinlich um Geld zu transferieren. Vor zwei Jahren reiste er zum letzten Mal in die Staaten ein.«
»Was ist mit ihm passiert?« Ihre Stimme klang dünn und zitterig.
»Die Polizei glaubt, daß er irgendwo auf der Ranch verscharrt ist.«
Ich hörte Stoff rascheln.
»Jeannottes Bruder traf Boudrais in Texas und war sofort von ihr fasziniert. Damals nannte sie sich bereits Elle. Zu dieser Zeit erschien auch Dom Owens auf der Bildfläche.«
»Das ist der Mann aus South Carolina?«
»Ja. Owens war Schmalspurmystiker und dilettierender ganzheitlicher Heiler. Als er die Ranch in Fort Bend besuchte, war es um ihn geschehen, er verfiel Elle, lud sie in seine Kommune auf St. Helena ein, und sie übernahm schließlich die Kontrolle über seine Gruppe.«
»Aber das klingt alles so harmlos. Kräuter und Zaubersprüche und ganzheitliche Medizin. Wie konnte es da zu Gewalt und Tod kommen?«
Wie erklärt man Wahnsinn? Ich wollte weder über das psychologische Gutachten reden, das auf meinem Tisch lag, noch über die Abschiedsbriefe, die man in Ange Gardien gefunden hatte.
»Boudrais las sehr viel, vor allem Philosophie und Ökologie. Sie war überzeugt, daß die Erde zerstört werden würde, und bevor das passierte, wollte sie ihre Anhänger wegbringen. Sie sah sich selbst als Schutzengel jener, die ihr ergeben waren, und das Haus in Ange Gardien betrachtete sie als Startrampe.«
Eine lange Pause entstand, dann fragte Schwester Julienne: »Haben sie wirklich daran geglaubt?«
»Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht, daß Elle sich ausschließlich auf ihre rhetorischen Fähigkeiten verließ. Zum Teil nahm sie auch Drogen zu Hilfe.«
Wieder eine Pause.
»Meinen Sie, daß diese Leute genug glaubten, um freiwillig in den Tod zu gehen?«
Ich dachte an Kathryn. Und Harry.
»Nicht alle.«
»Es ist eine Todsünde, den Tod anderer zu inszenieren oder auch nur einen anderen Menschen gefangenzuhalten.«
Eine perfekte Überleitung.
»Schwester, haben Sie gelesen, was ich Ihnen in bezug auf Élisabeth Nicolet zugeschickt habe?«
»Ja.«
»Ich habe mich ausführlich über Abo Gabassa informiert. Er war ein hochangesehener Philosoph und öffentlicher Redner, der in Europa, Afrika und Nordamerika für sein leidenschaftliches Eintreten gegen den Sklavenhandel bekannt war.«
»Ich verstehe das.«
»Er und Eugénie Nicolet fuhren auf demselben Schiff nach Europa. Eugénie kehrte mit einer kleinen Tochter nach Kanada zurück.« Ich gestattete mir eine Atempause. »Die Knochen lügen nicht, Schwester Julienne. Und ihre Analyse ist keine Ansichtssache. Schon als ich Élisabeths Schädel zum ersten Mal sah, wußte ich, daß es sich um eine gemischtrassige Person handelte.«
»Aber das heißt nicht, daß sie eine Gefangene war.«
»Nein, das heißt es nicht.«
Wieder eine Pause. Dann sagte sie langsam: »Ich glaube auch, daß ein uneheliches Kind im Kreis der Nicolets nicht gut aufgenommen worden wäre. Und in diesen Tagen wäre ein gemischtrassiges Baby mit dunkler Haut wohl eine gesellschaftliche Unmöglichkeit gewesen. Vielleicht betrachtete Eugénie das Kloster als humanste Lösung.«
»Kann sein. Auch wenn Élisabeth ihr Schicksal vielleicht nicht selbst bestimmt hat, schmälert das ihre Leistungen nicht. Nach allen Berichten war ihre Arbeit während der Pockenepidemie heldenhaft. Tausende dürften ihr Leben Élisabeths Engagement verdanken.
Schwester, gibt es irgendwelche Heiligen aus Nordamerika, in deren Adern indianisches, afrikanisches oder
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