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Klippen

Klippen

Titel: Klippen
Autoren: Olivier Adam
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ich mich mit geschlossenen Augen mitten auf den Teppich und blieb lange so liegen. Woran dachte ich in diesen Augenblicken? Bestimmt an meine Mutter, an meinen Bruder. Was war von ihm übrig? Wohin hatte man ihn gebracht? Wo versteckte man sie beide? Mehrere Stunden verbrachte ich reglos und in absoluter Stille, und dass ich nicht weinte, lag vermutlich daran, dass mich die Tränen innerlich überfluteten, meine Organe mein Herz mein Blut meine Eingeweide meine Lungen ertränkten, bis ich flüssig war und tropfte.
    Der Abend kam, gräulich und sauer. Mehrmals übergab ich mich, während alles im schwindenden Licht verharrte. Die Treppe knackte unheilvoll wie totes Holz, wie im Sturm berstende Bäume. Knarrend öffnete sich die Tür zum tadellos aufgeräumten, trostlosen Zimmer. Ich betrat es nie, mein Vater hatte es uns verboten. Tagsüber schloss Maman die Fensterläden und legte sich im unvollkommenen Halbdunkel hin. Manchmal sagte sie leise unsere Namen. Wir hörten in unseren stillen Zimmern ihre Stimme. Sie winkte uns zu sich herein, fragte uns, wie unser Tag gewesen sei und wie es in der Schule gehe. Draußen war helllichter Tag, man sah es durch die Ritzen, die sonnendurchflutete Birke wiegte sich, das Geäst wirkte im Licht wie ziseliert. Ohne Erlaubnis und in Abwesenheit meiner Eltern einzutreten hatte etwas Unwirkliches. Ich hatte das Gefühl, in ein Museum, ein verbotenes Zimmer, eine Grabstätte einzudringen. Alles darin wirkte auf mich tot, und tatsächlich, meine Mutter war tot und mein Bruder vielleicht auch. Ich konnte den Gedanken nicht unterdrücken, dass er vielleicht auch tot war, dass das Leben aus ihm gewichen war und nur die schlaffe Hülle seiner Haut zurückgelassen hatte. In diesem Moment hatte ich meine erste Erscheinung. Ich spürte jemanden in meinem Rücken, eine Hand auf meiner Schulter. Ich drehte mich um und sah das Gesicht meiner Mutter, eine tausendstel Sekunde lang sah ich das Gesicht meiner Mutter, ich schwöre es, und sie lächelte. Schon war sie wieder verschwunden. Ich fing an zu weinen. Erst da hat es angefangen, erst in diesem Moment. Ich weinte lange. Bis mir die Augen brannten, bis mir schwindlig wurde und ich erschöpft war. Ich lag auf dem Bauch, meine Zähne bissen in die Bettdecke und das Kopfkissen. Mein Mund hinterließ darauf speichelfeuchte Kreise, Abdrücke eines regelmäßigen Gebisses.
    Später am Abend machte ich mich daran, die Schränke und Schubladen meiner Mutter leerzuräumen. Ich holte Kleider, Röcke, Blusen heraus. Wasser lief mir über die Wangen, und ich schluckte literweise Rotz. Die Kleidungsstücke türmten sich, eine Pyramide ohne Gruft, lächerlich und ergreifend. Mit einer großen Schneiderschere zerschnitt ich alles. Ich tat es ruhig, mit Hingabe und holte tief Luft, um wieder zu Atem zu kommen. In den Koffern häuften sich bunt gemischte Stofffetzen, Girlanden aus vielfarbigen Geweben. Einen nach dem anderen warf ich sie zur Treppe, wo sie mit lautem Getöse von Holz und Plastik hinunterkollerten. Ich leerte sie auf dem Wohnzimmerteppich aus. Es war stockdunkel, lediglich eine orangefarbene Lampe erhellte den Raum, die trostlose Tapete, die dunklen Holzmöbel mit den Zierdeckchen, der Obstschale, dem Nippes. Ich legte die Platte auf, die Maman so gemocht hatte, California dreamin’. Die Platte begann immer wieder von vorn, und schon bald war der Haufen einen Meter hoch. Mit dem Zeitungspapier, das mein Vater im Schuppen aufeinanderstapelte, machte ich im Kamin Feuer. Eine schwere Zange aus schwarzem Gusseisen in der Hand, verbrannte ich die Lumpen einen nach dem anderen. Bei manchen entstand schwarzer Qualm, ein chemischer Geruch, der in den Augen brannte und im Hals kratzte. Ich habe keine Ahnung, welchen Sinn dieses Tun für mich hatte und ob es überhaupt einen hatte.
    Es war nur noch ein Häuflein Asche übrig, als das Telefon klingelte. Ich hob ab, es war mein Vater, er werde bald kommen. Mein Bruder liege im Koma, im Krankenhaus von Villeneuve-Saint-Georges. Sein Zustand sei unverändert und rätselhaft.
     
     
     
     
     
     
    Mein Vater kam nach Hause, es war Mitternacht, ich lag im Wohnzimmer auf dem Sofa und stellte mich schlafend. Das Feuer war erloschen, aber der Geruch nach Holz und verbranntem Stoff hing noch in der Luft. Die Koffer befanden sich wieder in den Schränken, die Schere im Nähkasten, und während ich vor mich hin döste, glaubte ich mehrmals, Mamans Atem auf meiner Stirn zu spüren oder ihre Schritte auf der Treppe
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