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Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren

Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren

Titel: Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren
Autoren: Michael Klonovsky
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Peter Ustinovs, der bei seiner Musterung angeblich gesagt hat, er wolle zu den Panzern,damit er wenigstens sitzend in den Krieg ziehen könne –; Sitzen bedeutet, dass sich die Belastung fast ausschließlich auf die Muskeln und nicht auf die Gelenke überträgt. Keine Stöße, kein Verdrehen, kein Knirschen, kein Verschleiß. Ein übersäuerter Oberschenkel ist eine unangenehme Sache, aber im Gegensatz zu einem vom Joggen schmerzenden Knie irgendwie etwas Gesundes, jederzeit Regenerierbares. Es gibt kaum Ausweichmöglichkeiten für die am Pedal festgezurrten Beine. Die Bewegung bleibt rund, wenigstens im Idealfall. Geht man aus dem Sattel in den Wiegetritt, so ist das, als wenn man sich zum Tanz erhebt. Zumindest anfangs. Irgendwann wird es halt wehtun, und des Tänzers Gesicht wird leicht zu grimassieren beginnen.
    Radfahren im gehobenen Pulsbereich bedeutet zugleich Ek-stase und In-stase. Der Körper agiert ekstatisch, indem er verbrennt, Energie erzeugt und an die Pedale abgibt. Parallel dazu kehrt sich der Geist nach innen. Es mag objektiv damit zusammenhängen, dass dem Gehirn aufgrund der Muskulaturbelastung weniger Blut und damit weniger Sauerstoff zur Verfügung steht. Jedenfalls beschert zumindest mein Körper in Momenten harter Pulsarbeit meinem Geist ein Bewusstsein matrjoschkahafter Inwendigkeit. Das ist ein wahrlich denkwürdiger Vorgang, weil ich ja immer davon ausging, dass es der Geist ist oder das Bewusstsein, der oder das für die Treterei verantwortlich sei, aber manchmal tritt irgendwer einfach weiter, obwohl der Befehl längst aufgehoben ist.
    So wie konzentriertes Denken den Körper der Wahrnehmung zeitweise vollständig entzieht, verschwindet also umgekehrt der Geist bei konzentrierter körperlicher Anstrengung. Er wird immer leerer. Etwa als wenn ein Sturm den Himmel fegt. Der blaue Himmel besitzt keineswegs eine höhere Dignität als der bewölkte, er ist im Gegenteil eher langweiliger,aber er fasziniert durch seine azurne Reinheit. Bekanntlich gibt es im asiatischen Kulturkreis eine Menge von Techniken, eine vergleichbare Reinheit im Kopf herzustellen, und zwar jene des Nicht-Denkens. Auch der klügste Mensch denkt ja ununterbrochen Unsinn, ob er will oder nicht. Würde man Wort für Wort protokollieren, was einem Nobelpreisträger an einem einzigen Tag durch die Rübe rauscht, bräuchte man erstens Dutzende Blatt Papier und würde zweitens feststellen, dass mindestens neun Zehntel dessen, was darauf steht, Banalitäten, Versatzstücke oder schierer Nonsens sind.
Ich
denke, ist meistens eine Illusion; richtiger wäre:
Es
denkt. Das gilt übrigens für kluge Gedanken nicht minder, wenngleich sie sich insofern herbeizwingen lassen, als man ihnen sozusagen mental den Boden bereiten kann. Für die Erzeugung ihrer zahllosen minderbemittelten Geschwister sind heutzutage vor allem die Massenmedien verantwortlich, die an einem einzigen Tage vermutlich mehr Schwachsinn und überflüssige Informationen produzieren als frühere Hochkulturen während ihrer gesamten Existenz. Wie der Zivilisationsmüll die Weltmeere verschmutzt dieser Medienmüll auch noch das letzte, auch noch das feinste Gehirn.
    Was will uns der Autor mit diesem scheinbar äußerst radfahrfernen Exkurs sagen? Zunächst einmal, dass durch seinen Schädel ebenfalls zu jeder Zeit haarsträubender Unsinn in oft zermürbender Immergleichheit walzt, tausend meist medial aufgedrängte Dinge, die mit ihm nicht das Geringste zu tun haben – ich will Boris Becker nicht kennen. Und dass dieser Schädel folglich einer Reinigung permanent bedürftig ist. Und dass es dafür Wege gibt.
    Es verhält sich so, dass ich auf dem Rad bei entsprechend hohem Puls weniger – also auch weniger Quatsch – denke alsin jeder anderen Lebenslage, bei jeder anderen Beschäftigung, Sex eingeschlossen. Selbst am Ende eines ausgiebigen Gelages gibt der Kopf nicht in vergleichbarem Maße Ruhe. Allein schon deshalb lohnt sich die Fahrerei. Radfahren ist Meditation. Ich sondere dabei nicht nur literweise Schweiß ab, sondern auch jede Menge Blödsinn. Der zeitweise leere Kopf ist ein Segen.
    Ich befinde mich also beim Radfahren für bestimmte Zeitabschnitte nicht in Gedanken, sondern aus allen Gedanken (in-Gedanken-sein empfiehlt sich bei diesem Tempo ohne Knautschzone sowieso nicht). Diesen Zustand sollte man freilich nur suchen, wenn man seine Sinne zugleich unter Kontrolle behält. Man muss bei allem Dahinschweben und aller Schinderei hellwach sein. Je stärker
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