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Klammroth: Roman (German Edition)

Klammroth: Roman (German Edition)

Titel: Klammroth: Roman (German Edition)
Autoren: Isa Grimm
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verlassen konnten.
    Hinter sich vernahm sie Rufe und Hundegebell. Als sie ein letztes Mal über die Schulter blickte, brachen Menschen aus dem Wald hervor und schwenkten ihre Lampen zumTunnel herüber. Konnten sie sehen, was Anais und Nele sahen? Oder waren da für sie nur Dunkelheit und Regen und vielleicht eine verlorene Gestalt, die ein Deckenbündel an sich drückte?
    Jemand rief Anais’ Namen.
    Sie aber drehte sich um und trat in das Flattern und Glimmen. Sie spürte die ausgestreckten Hände, nicht hasserfüllt, sondern erleichtert und so hoffnungsvoll wie Nele, deren Herzschlag sie an ihrem spürte.
    Von Stille war bereits verschwunden, aber sie hörte seine Schreie tief im Berg, auf dem Weg zur anderen Seite.
    Die Verbrannten umschlossen sie wie ein Vogelschwarm, eine Wolke aus faserigen Wirbeln und Schwaden. Um sie war der Geruch von loderndem Haar. Sie war der Schlüssel zum Tor am Ende des Tunnels. Sie würde vorausgehen, würde sie führen.
    Das Streichholzmädchen brannte vor Freude, denn es war endlich heimgekehrt.

EPILOG
    Fünf Jahre später

Zu ihrem neunzehnten Geburtstag bekam Lily von ihrem Vater ihren ersten eigenen Wagen, einen gebrauchten Renault, den er dem Schlagzeuger seiner Band abgekauft hatte.
    An einem Septembermorgen verließ sie London und fuhr auf der M20 nach Osten, erreichte die Küste und ließ sich von einem Shuttlezug unter dem Meer hindurch zum Festland bringen. Sie fürchtete sich nicht vor Tunneln, benutzte jeden Tag die U-Bahn und finstere Fußgängerunterführungen. Manchmal, wenn Gestalten im Gegenlicht des Ausgangs standen, schlug ihr Herz ein wenig schneller, aber sie drehte niemals um.
    Gegen Mittag ließ sie Lüttich hinter sich, überquerte bei Aachen die Grenze nach Deutschland und folgte einer Autobahn nach Süden. Da hatte sie sich längst an den Rechtsverkehr gewöhnt und schaute beim Überholen nur noch selten in den falschen Außenspiegel.
    Am späten Nachmittag überquerte sie eine Betonbrücke und fuhr auf der Uferstraße nach Klammroth. Der Ort war noch kleiner, als sie erwartet hatte, und so still, als wäre schon vor Jahren jegliches Leben aus ihm herausgepresst worden. Es gab ein paar Autos und eine Handvoll Menschen auf der Straße, aber die meisten Geschäfte standen leer, die alten Weinhotels und Pensionen waren verwaist, und von vielen Häusern nahe des Ufers waren Farbe und Verputz abgeblättert. Vor fünf Jahren hatte Klammroth eines derschlimmsten Hochwasser seit Generationen erlebt, und seither war kein Jahr vergangen, in dem die Flut nicht zurückgekehrt war und die untere Altstadt verwüstet hatte.
    Lily parkte vor dem schmiedeeisernen Tor des Friedhofs. Sie kam überpünktlich zu ihrer Verabredung; ein Wunder bei dieser Anfahrt. Der Himmel war klar, nur ein paar helle Schleier zogen über die Baumwipfel hinweg.
    Ihr Großvater war neben seiner ersten Frau bestattet worden, wie er es in seinem Testament verfügt hatte. Lily stand einige Minuten vor dem Doppelgrab und suchte nach Erinnerungen. Sie war ihm zuletzt als kleines Kind begegnet. Ein vages Gesicht und verschwommene Szenen eines Nachmittags im Garten. In seinem Letzten Willen hatte er ihr alles hinterlassen, das Grundstück oben im Hang mit Blick auf die Weinberge, und ein wenig Geld, das ihr Vater für sie angelegt hatte.
    Es kamen auch noch Tantiemen von den Büchern ihrer Mutter herein. Der siebte Roman war posthum erschienen und hatte sich eine Weile lang blendend verkauft. Das spurlose Verschwinden seiner Autorin hatte ihm einige Aufmerksamkeit in den Medien beschert.
    Vom Grab ihrer Großeltern schlenderte Lily unter Eichen und Birken zum Friedhofsteich, vorbei an den Gräbern der Verbrannten. Auf der Oberfläche des Tümpels schaukelte das erste Herbstlaub. Sie ging am Ufer in die Hocke und schob gedankenverloren die Fingerspitzen ins Wasser. Es war eiskalt. Als sie aufsprang, prallte sie gegen jemanden, der unbemerkt von hinten herangetreten war.
    »Entschuldigen Sie«, sagte der Mann. »Sie haben so nachdenklich ausgesehen, da wollte ich Sie nicht stören.«
    Er hatte kurzes braunes Haar und einen Ansatz von Geheimratsecken, aber sie erkannte ihn trotzdem von einemFoto wieder, das sie damals im Internet gesehen hatte. Darauf war sein Haar viel länger gewesen. Heute sah er nicht fünf, sondern eher zehn Jahre älter aus.
    »Herzog«, stellte er sich vor. »Ich hab Ihren Wagen draußen auf dem Parkplatz gesehen und wollte nicht am Tor auf Sie warten.«
    Sie lächelte und reichte
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