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Klammroth: Roman (German Edition)

Klammroth: Roman (German Edition)

Titel: Klammroth: Roman (German Edition)
Autoren: Isa Grimm
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quergestellt hatte und die übrigen ineinandergefahren waren. Dann die Flammen, die Hitze, die erste Explosion.
    In ihr hatte sich eine schwarze Leere aufgetan. Sie hatte sich abgewandt und war gegangen, hatte das alles einfach hinter sich gelassen. Und als die Feuerlohe ihr aus dem Tunnel gefolgt war, hatte Anais sie kaum gespürt, keine Empfindungen mehr, nicht einmal Schmerz. Nicht sofort.
    Sie hatte geglaubt, dass niemand sie gesehen hatte. Keiner hatte sich je darüber gewundert, dass sie nicht an der Busfahrt teilgenommen hatte und trotzdem Verbrennungen aufwies. Ihr Vater hatte den Abschiedsbrief gefunden, den sie vor ihrem Weg den Berg hinauf geschrieben hatte, erst später, als sie schon im Krankenhaus lag, und da hatte er sich manches zusammengereimt oder vielleicht nur befürchtet, und er hatte alle Unterlagen in der Schule verschwinden lassen, genau wie den Brief.
    Hatte er deshalb die anderen vor den Fenstern gesehen? War das der Grund, warum sie ihm in den Nächten erschienen waren, das Flattern am Rand seines Blickfelds, das schwarze Wabern draußen in der Nacht?
    Ich bin der Schlüssel, dachte Anais.
    Ich trage die Schuld.
    Sie gab Nele einen sanften Kuss auf die Stirn. »Danke«, wisperte sie und machte den nächsten Schritt auf das Tor zu.
    Ein Glimmen entstand in der Finsternis, immer deutlicher, je länger sie durch die Regenvorhänge blickte. Siehatte Angst, dass das Unwetter sie aufhalten und wie Pappfiguren fortreißen würde, und sie stemmte sich dagegen, als wären da noch andere Kräfte, die sie zurückhalten wollten.
    Eine davon gerann zu einem Körper, löste sich wie ein Ölfleck in Menschengestalt aus der Dunkelheit des Mauerwerks und verstellte ihr den Weg.
    »Mit der Schuld zu leben wird leichter, wenn man sie erst akzeptiert hat«, sagte von Stille.
    Anais hatte gehofft, dass er ihr folgen würde. Hier hatte sie keine Angst mehr vor ihm. »Ich werde niemals so sein wie Sie.«
    »Du bist schon einmal hier heraufgekommen ohne nachzudenken. Mach den gleichen Fehler nicht erneut.«
    »Das hier ist kein Fehler.« Sie war zu erschöpft zum Sprechen und würde bald nicht mehr in der Lage sein, weiterzugehen. Neles Schmerz hätte ihr einen weiteren Schub geben können, aber das zog sie nicht mal in Erwägung. Hier und jetzt musste es enden.
    Die Ahnung von milchiger Helligkeit im offenen Tunnel breitete sich aus, schien über die Ränder des stählernen Tors zu fließen wie Hitze, die das Metall zum Glühen brachte. Von Stilles hagere Silhouette wurde langsam davor sichtbar wie das Bild einer Polaroidkamera. Sie fragte sich, ob er das Licht hinter sich schon bemerkt hatte, denn nun kroch es auch an den beiden Efeumauern rechts und links der Trasse entlang, unendlich vage nur, so, als gewöhnte sich ihr Blick an etwas, das in Wahrheit schon die ganze Zeit über da gewesen war.
    Doch von Stille wurde von etwas in ihrem Rücken abgelenkt. Seine Augen glühten auf wie die Metallmarken der Kinder im Tunnelfeuer.
    Mit Nele im Arm drehte sie den Oberkörper gerade weitgenug, um nach hinten zu blicken. Der Waldrand, eben noch unsichtbar, war jetzt ein verzweigter Scherenschnitt aus Stämmen und Ästen. Dahinter zuckte hektisches Geflimmer, tanzende Irrlichter im Unterholz, die den Wald in ein Splitterwerk aus Schwarz und Weiß verwandelten. Taschenlampen, mindestens ein Dutzend.
    Als sie sich wieder umwandte, waren von Stille, Nele und sie nicht mehr allein vor dem Tor. Sie spürte die anderen mehr, als dass sie sie sah. Überall war jetzt ein Flattern und ein Brodeln, das Aufblähen von Flecken aus Dunkelheit inmitten des Glimmens.
    Kommt mit , sagte jemand.
    Die Stimme eines jungen Mädchens. Christinas Stimme. Sie und die anderen hatten auf Anais gewartet, aber nicht nur auf sie.
    Waren sie ihm denn nie erschienen? Oder hatte er sie all die Jahre lang ignoriert? Sie hielt das für möglich, für wahrscheinlich sogar angesichts seiner Besessenheit von sich selbst. Der Rest der Welt war nur Nahrung für ihn, ein bodenloses Reservoir an Schmerz und Leid. Es war seine Ignoranz, die sein Schicksal erfüllte.
    »Ich hab ihn euch mitgebracht«, sagte Anais.
    Er begann zu schreien, als einige von ihnen ihn packten und herumrissen. Sie tobten und stritten um ihn, sie wirbelten und rotierten, und dann zerrten sie ihn mit sich. Die älteren unter ihnen hatten schon auf ihn gewartet, bevor Anais zum ersten Mal einen Fuß in den Tunnel gesetzt hatte, und er war ihr Tribut, damit sie diesen Ort endlich
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