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Klammroth: Roman (German Edition)

Klammroth: Roman (German Edition)

Titel: Klammroth: Roman (German Edition)
Autoren: Isa Grimm
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würde. Ein neunundneunzigjähriger Mörder? Eine Kreatur, die kein Mensch mehr war, süchtig nach Schmerz und Leiden?
    Sie griff nach dem Bajonett und zerschnitt die letzte Fessel. Mit einem Keuchen kam sie frei, stolperte auf die Füße und schleuderte die Waffe von sich. Sie zog sich die Jackeüber und ertastete Sebastians Handy in ihrer Tasche. Als sie sich dem Ausgang zuwandte, hörte sie hinter sich eine Stimme, ganz leise nur.
    »Nimm mich mit, Anais. Wenn du zu ihnen gehst, dann nimm mich mit.«
    Sie wollte das Flehen ignorieren und Nele zurücklassen. Aber es gab nicht viel anderes, was sie jetzt noch richtig machen konnte.
    Sie hob Neles Torso vom Boden, nicht größer als ein Kleinkind und ebenso leicht. Dann machten sie sich gemeinsam auf den Weg hinaus in die Nacht.

44
    Anais presste Nele in der dünnen Decke an sich, trug sie geduckt durch den Weinberg und am Friedhof vorbei, dann tiefer in den dunklen Wald. Ihre ganze Welt stand kopf: Die Bäume schienen sich mit verschlungenen Wurzeln in den Himmel zu krallen, während ihre Kronen im Erdreich steckten.
    Es regnete noch immer. Nele hatte den vernarbten Mund geschlossen und atmete ganz ruhig an Anais’ Schulter. Die Aufschläge der Wassertropfen mussten ihre empfindliche Haut reizen, aber sie gab keinen Laut von sich.
    Die Sirenen waren hinter ihnen zurückgeblieben, als Anais zum ersten Mal stehen blieb und nach Luft schnappte. Ihr blieb nicht viel Zeit. Bald würde ein Großaufgebot der Polizei die Umgebung durchforsten.
    Behutsam legte sie Nele im nassen Gras neben dem Waldweg ab, zog Sebastians Handy hervor und rief Phil an. Sie hatte seine Nummer nie vergessen.
    Es klingelte nur ein einziges Mal, dann war er dran. Er klang hellwach und argwöhnisch, als hätte er auf einen unangenehmen Anruf gewartet.
    »Hi«, sagte sie.
    »Anais! Was ist bei dir los? Hier hat gerade mitten in der Nacht die Polizei angerufen. Sie sagen   –«
    »Phil?«, unterbrach sie ihn sanft. »Wo ist Lily?«
    Schweigen am anderen Ende der Leitung.
    »Herrgott, Phil! Wo steckt sie?«
    Rascheln und Flüstern, dann eine andere Stimme. Sehr jung und verstört.
    »Mum?«
    Anais sank neben Nele auf die Knie und schloss die Augen. Der Regen prasselte ihr eiskalt ins Gesicht. Weit entfernt heulten neue Sirenen durchs Flusstal.
    »Mum? Ist alles in Ordnung mit dir?«
    Sie suchte nach Worten und hatte das Gefühl, das jemand ihren Schädel geöffnet und ihren Verstand gegen Glaswolle ausgetauscht hatte. Alles um sie herum drang nur gedämpft zu ihr vor, sogar Lilys Stimme.
    »Sag doch was.«
    »Mir geht’s gut, mein Schatz.«
    »Ein Polizist hat angerufen. Er wollte wissen, ob ich bei Dad bin und wann wir uns zuletzt gesehen haben.«
    »Ich hab dich sehr lieb, Lily. Das weißt du, oder?«
    Schweigen auf der anderen Seite. Wahrscheinlich bedeutete Phil Lily gerade, zu antworten. Er hatte sich in diesen Dingen immer fair verhalten. Anais hatte ihm einmal vorgeworfen, ihr Lily weggenommen zu haben, aber das war falsch gewesen, und sie wusste es. Als Lily sich nach der Trennung für ihn entschieden hatte, hatte sich niemand ernsthaft darüber gewundert, nicht einmal Anais. Für ihre Tochter war es das Beste gewesen.
    »Mum? Ich will, dass es dir gut geht. Ich meine, wirklich gut. Nicht nur so dahingesagt.«
    Nele stieß ein leises Stöhnen aus. Wahrscheinlich war ihr Morphium überfällig, und der Regen machte es nicht besser.
    »Tut mir leid«, sagte Anais zu Lily, »dass ich nicht für dich da sein konnte. Ich hab eine Menge falsch gemacht. Ich hätte viel öfter   –«
    »Du hast deine Bücher.« Es klang nicht mal vorwurfsvoll.
    »Aber du bist meine Tochter.«
    »Ich   … hab dich auch lieb, Mum.«
    Wieder das Rascheln, dann hatte Lily das Telefon aus der Hand gegeben. Anais hörte sie im Hintergrund leise schluchzen.
    »Hör mal«, sagte Phil, »ich weiß nicht, in was für Schwierigkeiten du steckst, aber du brauchst Hilfe.«
    Nein, was sie brauchte, war Mut.
    Sie rieb sich Regenwasser vom Kinn. »Versprich mir, gut auf sie aufzupassen.«
    »Das kommt alles wieder in Ordnung. Jemand wird wissen, was gut für dich ist. Vielleicht stimmt nur was mit den Medikamenten nicht, du kannst andere nehmen und   –«
    »Phil«, sagte sie, »bitte.«
    Er hielt kurz inne und sagte dann leise: »Lily redet viel öfter von dir, als du denkst.«
    »Ich will nicht, dass sie sich Sorgen um mich macht. Das hat sie schon immer getan, seit sie klein war, und das muss aufhören. Sie ist bald zu
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