Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kinsey Millhone 04 - Ruhelos

Kinsey Millhone 04 - Ruhelos

Titel: Kinsey Millhone 04 - Ruhelos
Autoren: Sue Grafton
Vom Netzwerk:
der mir sinnvoller erschien. Der Anblick der Fotos rief schon Schweißausbrüche bei mir hervor, vor allem, wenn sie von einem Standpunkt aus aufgenommen waren, wenn er in einen gähnenden Abgrund blickte. Vielleicht habe ich mehr Angst vor der Höhe, als ich eingestehen will.
    Ich ließ zu, daß mein rechter Fuß sich bis zum Rand der Nische senkte. Ich fand einen Halt für meine Hand, weiter unten und rechts von mir. Fühlte sich an wie eine Ananas, aber ich war nicht sicher. Da vertraute ich meine Sicherheit also einem falschen Stück Obst an. Ich mußte verrückt sein.
    Das Schlimmste war, tatsächlich loszulassen, als mein Fuß sicher in der Vertiefung stand. Ich mußte in die Knie gehen, mich leicht nach rechts drehen, mich Stück für Stück herablassen, bis ich endlich sitzen konnte. Tony, wie immer höflich, reichte mir tatsächlich die Hand, hielt mich, bis ich neben ihm saß. Ich bin nicht tapfer. Wirklich nicht. Ich wollte bloß nicht, daß er von diesem Gebäude flog, während ich zuschaute. Ich legte meinen linken Arm um die Fackel, gleich unter seinem, hielt mich mit der rechten Hand am Handgelenk fest. Ich konnte fühlen, wie mir der Schweiß am Körper herablief.
    »Ich hasse das«, erklärte ich. Ich war gereizt und fertig, nicht von der Anstrengung, sondern aus Angst.
    »So schlimm ist es nicht. Sie dürfen nur nicht nach unten schauen.«
    Natürlich tat ich das. Kaum hatte er das gesagt, da packte mich der unwiderstehliche Wunsch zu blinzeln. Ich hoffte, daß uns jemand sehen würde, wie es im Fernsehen immer ist. Dann würden die Cops mit ihren Netzen kommen, und die Wagen der Feuerwehr, und jemand würde ihn überreden, es nicht zu tun. Ich bin ein Erdzeichen, ein Stier. Ich war nie ein Mensch der Luft, des Wassers oder des Feuers. Ich bin ein Geschöpf der Schwerkraft, und ich konnte fuhren, wie der Boden flüsterte. Dasselbe passiert mir, wenn ich in alten Hotels im zweiundzwanzigsten Stock wohne. Ich öffne ein Fenster und will mich hinausschwingen.
    »Ach je, das ist so eine schlechte Idee«, meinte ich.
    »Für Sie vielleicht, für mich nicht.«
    Ich versuchte an mein kurzes Leben als Cop zurückzudenken, an das Standardvorgehen im Umgang mit potentiellen Selbstmördern. Zeitschinden war die erste Regel. Ich konnte mich nicht erinnern, daß davon die Rede war, daß man seinen Arsch über den Rand eines Hauses hängen sollte, aber genau das tat ich gerade. »Worum geht’s, Baby? Willst du mir das nicht erzählen?« fing ich an.
    »Da gibt es nicht viel zu erzählen. Daggett rief Montag bei uns an. Tante Ramona hat die Nummer notiert, und ich rief ihn zurück. Ich habe davon geträumt, ihn umzubringen. Ich konnte es nicht abwarten. Seit Monaten hatte ich diese Phantasien, jede Nacht, ehe ich einschlief. Ich wollte ihn erwischen, mit einem Draht um den Hals, und langsam zudrehen, bis er in seine Luftröhre schnitt und seine Zunge aus dem Mund kam. Das dauert nicht sehr lange. Ich hab vergessen, wie man das nennt...«
    »Strangulieren«, half ich.
    »Ja, das hätte mir gefallen, aber dann dachte ich mir, es wäre besser, wenn es wie ein Unfall aussehen würde, weil — so würde ich nicht erwischt werden.«
    »Warum hat er angerufen?«
    »Ich weiß nicht. Er war betrunken und brabbelte, sagte, es täte ihm leid und er wollte an mir wiedergutmachen, was er getan hatte. Ich sagte: >Schön. Warum treffen wir uns nicht und reden miteinander?< Und er: >Das würde mir so viel bedeuten, mein Sohn.<« Tony spielte die Rollen, verwendete eine bebende Falsettstimme für Daggett. »Also hab ich ihm gesagt, ich würde ihn am nächsten Abend in dieser Bar treffen, von der aus er angerufen hat, im Hub. Dadurch blieb mir nicht mehr viel Zeit, diese Aufmachung zusammenzustellen.«
    »War das Ramonas Rock?«
    »Nee, den hab ich für ‘nen Dollar im Laden von der Heilsarmee gekauft. Das Sweatshirt hat noch mal fünfzig Cent gekostet und die Schuhe zwei Dollar.«
    »Wo ist das Sweatshirt?«
    »Das hab ich in einen anderen Abfallkorb geworfen, eine Straße von dem ersten entfernt. Ich dachte, so würden sie alle auf der Müllhalde enden.«
    »Was ist mit der Perücke?«
    »Die gehört Tante Ramona, ist schon Jahre alt. Sie hat nicht einmal gemerkt, daß sie fort war.«
    »Warum hast du die behalten?«
    »Ich weiß nicht. Ich wollte sie in den Schrank zurücklegen, wo ich sie rausgenommen hatte, für den Fall, daß ich sie noch mal benötigen würde. Ich hatte sie am Strand auf, aber dann fiel mir ein, daß Billy
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher