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Kinder der Stürme

Kinder der Stürme

Titel: Kinder der Stürme
Autoren: George R.R. Martin
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wollte ihr helfen, stattdessen machte er alles noch viel schlimmer. „Wir könnten es wenigstens versuchen. Die Flügel gehören mir, aber du könntest sie tragen …“
    „Hör auf, Dorrel. Der Landmann, dein Landmann, würde das niemals gestatten. Es ist nicht nur Tradition, es ist Gesetz. Sie würden dir die Flügel wegnehmen und sie jemandem geben, der das Gesetz respektiert. Erinnere dich an Lind, den Schmuggler. Angenommen, wir fliehen an einen Ort, wo es weder Gesetz noch Landmänner gibt, an einen einsamen Ort – wie lange könntest du es ertragen, deine Flügel mit jemandem zu teilen? Mit mir zu teilen? Verstehst du nicht? Wir würden uns hassen. Ich bin kein Kind, das üben darf, während du dich ausruhst. So könnte ich nicht leben, angewiesen auf das Mitleid eines anderen Fliegers und doch zu wissen, daß die Flügel niemals mir gehören. Du könntest es nicht aushalten, zu sehen, wie ich dich beobachte … wir würden …“ Sie hielt inne und suchte nach Worten.
    Dorrel schwieg einen Moment. „Es tut mir leid“, sagte er. „Ich wollte etwas tun, um dir zu helfen, Maris. Der Gedanke, daß du nie mehr fliegen wirst, ist unerträglich. Ich wollte dir etwas geben. Ich kann es nicht fassen, daß du fortgehst und dann …“
    Sie nahm wieder seine Hand und hielt sie ganz fest. „Ja, ja. Psst.“
    „Du weißt, daß ich dich liebe, Maris. Du weißt es doch?“
    „Ja, und ich liebe dich, Dorrel. Aber … ich werde niemals einen Flieger heiraten. Ich könnte es nicht. Ich würde ihn umbringen, um seine Flügel zu bekommen.“ Sie versuchte ihre düsteren Worte durch ein Lächeln abzumildern. Es mißlang ihr.
    Am Rand der Klippe umarmten sie einander und versuchten durch den Druck ihrer Körper all das auszudrücken, was sie nicht zu sagen vermochten. Mit Tränen in den Augen rissen sie sich los.
    Maris zerrte an ihren Flügeln. Plötzlich fror sie wieder. Dorrel wollte ihr helfen, aber seine Finger behinderten sie nur. Beide lachten unsicher über ihre Ungeschicklichkeit. Sie ließ ihn die Flügel entfalten. Als er den ersten ausgebreitet hatte und mit dem zweiten fast fertig war, fiel ihr plötzlich Rabe wieder ein. Sie winkte Dorrel zur Seite. Verwirrt beobachtete er, wie Maris den Flügel über den Kopf hob und mit einem Ruck zur Seite schleuderte. Sie war fertig zum Absprung.
    „Guten Flug“, sagte er schließlich.
    Maris wollte etwas sagen, nickte aber nur. „Und du“, sagte sie endlich, „paß auf dich auf, bis …“ Aber diese letzte Lüge brachte sie nicht über die Lippen, ebensowenig konnte sie ihm Lebewohl sagen. Sie drehte sich um, rannte davon und stieß sich von Eyrie ab, hinein in die Nachtwinde eines kalten schwarzen Himmels.
    Es war ein langer einsamer Flug über das sternenbeleuchtete Meer. Nichts regte sich. Der Wind blies unaufhörlich von Osten. Maris mußte gegen ihn anfliegen, wodurch sie Zeit und Geschwindigkeit verlor. Als sie endlich den Leuchtturm ihrer Heimatinsel Klein Amberly erspähte, war Mitternacht längst vorbei.
    Unten am Landestreifen war noch ein anderes Licht. Als sie leicht und anmutig über die Küste flog und zur Landung ansetzte, wunderte sie sich darüber. Sie dachte, es wäre einer der Helfer, aber die waren um diese Zeit normalerweise nicht am Strand. Unvermittelt schlug sie auf dem Boden auf.
    Maris fluchte und beeilte sich aufzustehen. Hastig begann sie die Schwingen zu lösen. Sie hätte wissen müssen, wie gefährlich es war, sich im Augenblick der Landung ablenken zu lassen. Das Licht kam näher.
    „Hast du dich also doch zur Rückkehr durchgerungen“, hörte sie eine harte, zornige Stimme. Es war Russ, ihr Vater – eigentlich ihr Stiefvater. Mit seiner gesunden Hand hielt er eine Laterne, seine rechte Hand hing bewegungslos herab.
    „Ich habe auf Eyrie Zwischenstation gemacht“, sagte sie entschuldigend. „Hast du dir Sorgen gemacht?“
    „Coli sollte den Flug übernehmen, nicht du.“ Grimmige Linien durchzogen sein Gesicht.
    „Er schlief noch“, sagte Maris. „Er war viel zu langsam, er hätte den besten Flugwind verpaßt. Er wäre in den Regen gekommen und hätte eine Ewigkeit für den Rückflug gebraucht. Falls er überhaupt hier angekommen wäre, denn er fliegt nicht gut im Regen.“
    „Er muß es lernen. Der Junge muß seine eigenen Erfahrungen sammeln. Du warst sein Lehrer, aber bald gehören die Flügel ihm. Er ist der Flieger und nicht du.“
    Maris zuckte zusammen, als habe er sie geschlagen. Das war derselbe Mann, der sie
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