Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kinder der Stürme

Kinder der Stürme

Titel: Kinder der Stürme
Autoren: George R.R. Martin
Vom Netzwerk:
fliegen gelehrt hatte, der so stolz darauf gewesen war, daß sie instinktiv das Richtige zu tun schien. Wie oft hatte er unversichert, daß ihr die Flügel gehören würden, obwohl sie nicht seine leibliche Tochter war. Zu einer Zeit, als es sicher schien, daß sie keine eigenen Kinder haben konnten, hatten er und seine Frau Maris zu sich genommen. Auf diese Weise hatten sie einen Erben für die Flügel. Durch einen Unfall für immer vom Himmel verbannt, war es für ihn wichtig gewesen, einen Nachfolger zu finden. Seine Frau hatte sich geweigert, das Fliegen zu erlernen. Sie hatte damals bereits fünfunddreißig Jahre als Landgebundene gelebt und hatte nicht die Absicht, von einer Klippe zu springen. Außerdem war es damals schon zu spät, denn das Fliegen mußte in frühester Jugend erlernt werden. Darum hatte er Maris das Fliegen gelehrt, sie adoptiert und an Kindes Statt geliebt, Maris, die kleine Fischertochter, die nicht mit anderen Kindern spielte, sondern hoch oben auf der Sprungklippe saß und die Flieger beobachtete.
    Aber dann, entgegen aller Wahrscheinlichkeit, kam Coli zur Welt. Seine Mutter war gleich nach der langen schwierigen Geburt gestorben. Maris, damals selbst noch ein Kind, erinnerte sich an jene dunkle Nacht. Leute waren ein- und ausgegangen. Und später hatte ihr Stiefvater allein in der Ecke gesessen und geweint. Coli hatte überlebt. Maris, plötzlich zu einer Kindmutter geworden, liebte und versorgte ihn. Anfangs glaubte niemand, daß Coli durchkommen würde. Maris war glücklich, als der Kleine seine Schwäche überwunden hatte, und jahrelang liebte sie ihn als Bruder und Sohn. Nebenbei übte sie unter den wachsamen Augen des Vaters das Fliegen.
    Bis zu jenem Abend, als der Vater ihr erklärte, daß Coli, das Baby Coli, ihre Flügel bekommen würde.
    „Ich fliege viel besser, als er jemals fliegen wird“, sagte Maris jetzt unten am Strand, und ihre Stimme zitterte.
    „Das streite ich nicht ab. Aber das spielt keine Rolle. Er ist mein Fleisch und Blut.“
    „Das ist ungerecht!“ schrie sie. Zum ersten Mal sprach sie aus, was sie seit jenem Tag empfand, als ihr Vater ihr gesagt hatte, daß Coli die Flügel erben würde. Seit damals war Coli herangewachsen, dennoch war er noch zu jung. Aber der Tag seiner Flugjährigkeit rückte näher. Maris besaß nicht den mindesten Anspruch. Das Fliegergesetz galt seit Generationen und ging zurück bis zu den Sternseglern selbst, den legendären Flügelschmieden. Das erstgeborene Kind aus einer Fliegerfamilie übernahm die Flügel von seinen Eltern. Talent spielte dabei keine Rolle, es handelte sich um ein reines Erbfolgerecht. Und Maris kam aus einer Fischerfamilie.
    „Ungerecht oder nicht, das Gesetz verlangt es so, Maris. Du weißt es seit langem, auch wenn du es nicht wahrhaben wolltest. Sechs Jahre lang hast du den Flieger gespielt, und ich ließ dich gewähren, weil du es liebtest und weil Coli einen fähigen Lehrmeister brauchte und weil unsere Insel für nur zwei Flieger zu groß ist. Aber du wußtest, daß dieser Tag kommen mußte.“
    Er könnte ruhig etwas freundlicher sein, dachte sie verbittert. Er sollte doch wissen, was es bedeutet, den Himmel zu verlieren.
    „Komm jetzt“, sagte er. „Du wirst nie wieder fliegen.“
    Ihre Flügel waren noch voll ausgespreizt. Sie hatte lediglich einen Gurt gelöst. „Ich werde fortgehen“, sagte sie erregt. „Du wirst mich nie wiedersehen. Ich werde eine Insel suchen, die keinen eigenen Flieger besitzt. Sie werden mich mit offenen Armen empfangen und nicht danach fragen, wie ich an meine Flügel gekommen bin.“
    „Niemals“, sagte ihr Vater traurig. „Die anderen Flieger würden die Insel meiden, so wie sie es getan haben, als der verrückte Landmann von Kennehut den Flieger-Der-Schlechte-Nachrichten-Brachte exekutiert hatte. Man nähme dir die gestohlenen Flügel ab, ganz gleich, wohin du gehst. Kein Landmann würde dieses Risiko eingehen.“
    „Dann zerstöre ich sie!“ sagte Maris, der Hysterie nahe. „Dann kann auch Coli niemals mehr fliegen … dann …“
    Glas klirrte auf Stein. Ihr Vater hatte die Laterne fallengelassen. Das Licht erlosch. Er packte ihre Hände. „Das brächtest du nicht fertig. So etwas könntest du Coli nicht antun. Gib mir jetzt die Flügel.“
    „Ich würde nie …“
    „Ich weiß nicht, wozu du fähig wärst oder nicht. Ich dachte, du wärst heute Morgen hinausgeflogen, um dich zu töten, um im Flug zu sterben. Ich kenne das Gefühl, Maris. Deshalb hatte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher