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Kinder der Stürme

Kinder der Stürme

Titel: Kinder der Stürme
Autoren: George R.R. Martin
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ich solche Angst und war so wütend. Du darfst Coli nicht die Schuld geben.“
    „Nein. Ich würde auch niemals verhindern, daß er fliegt, aber ich würde selbst so unendlich gerne fliegen, bitte, Vater.“ In der Dunkelheit liefen ihr die Tränen über die Wangen, sie schmiegte sich an ihn.
    „Ja, Maris“, sagte er. Er konnte den Arm nicht um sie legen, die Flügel waren im Weg. „Ich kann nichts für dich tun. So sind die Dinge nun einmal. Du mußt wie ich lernen, ohne Flügel zu leben. Wenigstens durftest du sie eine Zeitlang tragen – du weißt, was Fliegen bedeutet.“
    „Das reicht mir aber nicht!“ sagte sie dickköpfig. „Früher, als ich noch nicht in deinem Hause lebte, als du der berühmte Flieger von Amberly warst und ich ein kleines, unbekanntes Mädchen, da dachte ich, es sei genug. Ich habe dich und die anderen Flieger beobachtet und gedacht, wenn ich nur einmal die Flügel haben dürfte, nur für einen winzigen Augenblick, dann wäre mein Lebenswunsch erfüllt. Aber so ist es nicht. Ich kann nicht auf sie verzichten.“
    Die strengen Linien waren jetzt aus dem Gesicht des Vaters verschwunden. Er streichelte sie zärtlich und trocknete ihre Tränen. „Vielleicht hast du recht“, sagte er langsam und schwerfällig. „Vielleicht habe ich einen Fehler gemacht. Ich dachte, wenn du wenigstens eine Weile fliegen könntest, wäre das besser als gar nichts. Ich dachte, es wäre ein wunderbares Geschenk. Aber ich habe mich geirrt. Du kannst nun niemals mehr glücklich sein. Du wirst nie eine Landgebundene, denn du bist geflogen. Du wirst dir immer eingesperrt vorkommen.“ Er schwieg plötzlich, und Maris erkannte, daß er auch von sich sprach.
    Er half ihr beim Abnehmen und Falten der Flügel, dann traten sie gemeinsam den Heimweg an.
    Ihr Haus war ein einfacher Holzbau, umgeben von Wesen und Bäumen. Hinter dem Haus plätscherte ein Bach. Flieger konnten gut und sorglos leben. Russ wünschte ihr eine gute Nacht und nahm die Flügel mit nach oben. Vertraut er mir nicht mehr? dachte Maris. Was habe ich getan? Und wieder brach sie in Tränen aus.
    In der Küche fand sie Käse, kalten Braten und Tee. Sie nahm alles mit ins Eßzimmer. Eine kugelförmige Sandkerze stand mitten auf dem Tisch. Sie zündete sie an, und während sie aß, sah sie dem Spiel der Flamme zu.
    Als sie sich eben zum Gehen anschickte, trat Coli ein. Unschlüssig blieb er in der Tür stehen. „Hallo, Maris“, sagte er leise. „Ich bin froh, daß du wieder da bist. Ich habe auf dich gewartet.“ Für einen Dreizehnjährigen war er recht groß. Er hatte einen schlanken, geschmeidigen Körper, lange rotblonde Haare und den ersten Anflug eines Schnurrbartes.
    „Hallo, Coli“, sagte Maris. „Steh nicht so nun. Es tut mir leid, daß ich die Flügel genommen habe.“
    Er setzte sich. „Du weißt, daß es mir nichts ausmacht. Du fliegst viel besser als ich und … na ja, du weißt. War Vater sehr wütend?“
    Maris nickte.
    Coli sah betrübt und ängstlich aus. „Noch eine Woche, Maris. Was sollen wir tun?“ Er starrte in die Kerze und wagte nicht, Maris in die Augen zu schauen.
    Maris seufzte und legte zärtlich die Hand auf seinen Arm. „Uns bleibt keine Wahl.“ Sie hatten schon oft darüber gesprochen. Sie und Coli. Sie kannte seinen Kummer wie ihren eigenen. Sie war seine Schwester und seine Mutter, und der Junge teilte seine Sorgen und Geheimnisse mit ihr. Das war die äußerste Ironie.
    Auch jetzt schaute er hoffnungssuchend zu ihr auf wie ein hilfloses Kind, obwohl er wußte, daß sie ebenso hilflos war wie er. „Warum bleibt uns keine Wahl? Ich begreife das nicht.“
    Maris seufzte. „Das ist das Gesetz, Coli. Wir können nicht gegen die Tradition verstoßen, das weißt du genau. Wir müssen der Pflicht nachkommen. Wenn die Entscheidung bei uns läge, würde ich die Flügel behalten und der Flieger sein. Du wärst der Sänger. Wir könnten beide stolz auf uns sein, weil wir unser Talent optimal einsetzten. Das Leben als Landgebundene wird schwer werden. Ich sehne mich so nach den Flügeln. Ich habe sie besessen, und es ist nicht gerecht, daß man sie mir wegnimmt. Aber vielleicht steht hinter dem eine höhere Gerechtigkeit, die ich nicht erkenne. Klügere Leute als wir haben die Entscheidung gefällt, und vielleicht bin ich zu jung, um das zu verstehen, oder zu egoistisch.“
    Nervös fuhr sich Coli mit der Zunge über die Lippen.
    Sie sah ihn fragend an.
    Uneinsichtig schüttelte er den Kopf. „Das ist nicht richtig,
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