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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44
Autoren: Tom Rob Smith
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verschwommene Schatten erkennen.
    »Pavel?«
    Keine Antwort. Andrej rief noch einmal. Sollte das etwa ein Spiel sein? Nein, sein Bruder machte keine Spielchen, jedenfalls nicht mehr. Andrej ging in die Richtung, wo er seinen Bruder zum letzten Mal gesehen hatte, aber er konnte nichts entdecken. So ein Mist. Irgendwas stimmte da nicht. Andrej rief noch mal, diesmal lauter. Warum gab sein Bruder keine Antwort? Mit dem rauen Jackenärmel wischte er sich die Nase ab.
    Vielleicht war das ja eine Prüfung. Was würde sein Bruder in so einer Situation machen? Er würde den Spuren im Schnee folgen. Andrej ließ seine Äste fallen und ging auf die Knie. Auf allen vieren suchte er die Erde ab. Er fand seine eigenen Fußspuren wieder und folgte ihnen bis zu dem Punkt, wo er sich von seinem Bruder getrennt hatte. Stolz auf sich selbst folgte er nun der Spur seines Bruders. Wenn er sich hinstellte, konnte er die Fußstapfen nicht erkennen, also kauerte er sich wieder hin, die Nase nur um Armeslänge vom Schnee entfernt. Dann machte er weiter, wie ein Hund, der einer Witterung folgt.
    Er kam an einem umgefallenen Baum an. Überall lagen Äste herum, und überall waren Stiefelabdrücke, manche tief und groß. Der Schnee war rot. Andrej nahm eine Handvoll und drückte sie zwischen den Fingern zusammen. Dann drückte er noch fester und sah, wie der Schnee zu Blut wurde.
    »Pavel!« Er hörte erst auf zu schreien, als ihm der Hals wehtat und er keine Stimme mehr hatte. Jetzt wimmerte er nur noch. Er wollte seinem Bruder sagen, dass er seinen Anteil von der Katze gerne haben konnte.
    Wenn er nur zurückkam. Aber es half nichts. Sein Bruder hatte ihn im Stich gelassen. Er war ganz allein.
    ***
    Hinter den Ziegelsteinen ihres Ofens hatte Oksana einen kleinen Sack mit zermahlenen Getreidehalmen, Gänsefuß und zerstoßenen Kartoffelschalen versteckt.
    Bei Kontrollen hatte sie immer ein kleines Feuer brennen, damit die Eintreiber ja nicht hinter die Flammen guckten. Sie misstrauten ihr. Warum war sie noch gesund, wenn alle anderen krank waren? Als sei es ein Verbrechen, am Leben zu sein. Aber etwas zu essen fanden sie in ihrem Haus nie und konnten sie nicht bezichtigen, eine Kulakin zu sein, die sich an anderen bereicherte. Anstatt sie also auf der Stelle zu exekutieren, ließen sie sie langsam krepieren. Oksana hatte schon gelernt, dass es nichts half, sich gegen diese Leute aufzulehnen. Vor einigen Jahren hatte sie im Dorf den Widerstand organisiert, nachdem bekannt gegeben worden war, dass Parteifunktionäre auf dem Weg zu ihnen waren, um die Kirchenglocke einzukassieren. Sie wollten sie einschmelzen. Oksana und vier andere Frauen hatten sich im Glockenturm eingeschlossen, unablässig geläutet und versucht zu verhindern, dass man die Glocke mitnahm. Oksana hatte geschrien, dass die Glocke Gott gehörte. Leicht hätte sie an diesem Tag erschossen werden können, aber der zuständige Eintreiber hatte beschlossen, die Frauen zu verschonen. Nachdem man die Tür aufgebrochen hatte, hatte er erklärt, sein einziger Befehl laute, die Glocke abzuholen, und Oksana belehrt, Metall sei wichtig für die industrielle Revolution ihres Landes. Als Antwort hatte sie vor ihm ausgespuckt. Als der Staat dann auch noch angefangen hatte, den Dorfbewohnern die Lebensmittel wegzunehmen mit dem Argument, sie gehörten dem Land und nicht ihnen, hatte Oksana ihre Lektion bereits gelernt.
    Statt Stärke zu zeigen, täuschte sie nun Gehorsam vor und hielt ihren Widerstand geheim.
    Heute würde die Familie sich den Bauch vollschlagen.
    Oksana schmolz Schneeklumpen, brachte die Flüssigkeit zum Kochen und dickte sie mit zerriebenen Getreidehalmen ein. Dann gab sie die letzten Knochen aus der Flasche hinzu, die sie, sobald sie ausgekocht waren, zermahlen würde. Jetzt bloß nicht voreilig werden, schließlich hatte Pavel es noch nicht geschafft.
    Aber er würde es schaffen, sie wusste es einfach. Gott hatte ihr ein schweres Los auferlegt, aber er hatte ihr auch einen Sohn an die Seite gestellt. Trotzdem nahm sie sich für den Fall, dass Pavel die Katze doch nicht fing, selbst das Versprechen ab, nicht böse auf ihn zu sein. Der Wald war schließlich groß, und außerdem war Zorn ohnehin nur verschwendete Kraft. Während Oksana sich noch innerlich auf eine mögliche Enttäuschung vorzubereiten versuchte, schwindelte es ihr schon bei der Aussicht auf Borschtsch mit Fleisch und Kartoffeln.
    Andrej stand in der Tür. Das Gesicht zerkratzt, die Jacke voller Schnee. Rotz
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