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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44
Autoren: Tom Rob Smith
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angestrengt und erkannte, dass die Katze mitten über der Falle stand. Er zog an der Schnur, aber zu spät, das Tier war schon weggesprungen. Die Schlinge hatte sie nicht erwischt. Trotzdem zog Andrej die Schnur zu sich heran, in der erbärmlichen Hoffnung, dass an ihrem Ende vielleicht doch eine Katze wäre. Als die leere Schlinge in seiner Hand ankam, spürte er, wie sich sein Gesicht vor Scham rötete. Wutentbrannt wollte er schon aufspringen und dieses verdammte Biest jagen, es einfangen und erwürgen, ihm den Schädel einschlagen. Aber Andrej rührte sich nicht. Er sah, dass sein Bruder flach auf die Erde gepresst liegen geblieben war. Und Andrej, der gelernt hatte, immer dem Beispiel seines Bruders zu folgen, machte genau dasselbe. Er blinzelte und kniff die Augen zusammen, bis er sah, dass die Katze auf die Falle seines Bruders zuschlich.
    Pavels Ärger über seinen nichtsnutzigen kleinen Bruder war angesichts der unvorsichtigen Katze dem Jagdfieber gewichen. Erwartungsvoll spannten sich seine Rückenmuskeln an. Ganz offensichtlich hatte die Katze Blut geleckt, und der Hunger war stärker als die Vorsicht. Er wartete, bis sie mitten im Lauf stehen blieb, eine Pfote halb in der Luft, und ihn geradeheraus anstarrte. Pavel hielt den Atem an. Seine Finger umklammerten die Schnur, er wartete, im Geiste lockte er die Katze. Bitte, bitte, bitte!
    Die Katze machte einen Satz, riss das Maul auf und schnappte sich den Knochen. Genau im richtigen Moment straffte Pavel die Schnur. Die Schlinge schloss sich um ihre Pfote, das Vorderbein war gefangen. Pavel sprang auf, zerrte und zog die Schlinge noch enger. Die Katze versuchte abzuhauen, aber die Schnur hielt sie fest. Ein Gekreisch erfüllte den Wald, als würde eine viel größere Kreatur um ihr Leben kämpfen. Die Katze warf sich im Schnee hin und her, krümmte sich und schnappte nach der Schnur. Pavel fürchtete, der Knoten könnte reißen, das Seil war dünn und zerschlissen. Als er versuchte, ihr näher zu kommen, nahm die Katze Reißaus und blieb außerhalb seiner Reichweite. Er schrie seinen Bruder an: »Mach sie tot!«
    Andrej hatte sich nicht mehr gerührt, weil er nicht noch einen Fehler machen wollte. Aber jetzt bekam er klare Anweisungen.
    Er sprang auf, machte einen Satz nach vorn, stolperte prompt und fiel kopfüber hin. Als er seine Nase aus dem Schnee hob, sah er vor sich die Katze, wie sie fauchte und spuckte und sich wand. Wenn die Schnur riss, wäre sie frei und sein Bruder würde ihn auf ewig hassen. Pavel schrie, seine Stimme überschlug sich vor Verzweiflung: »Mach sie tot! Mach sie tot! Mach sie tot!«
    Andrej rappelte sich hoch, und ohne eigentlich zu wissen, was er da machte, sprang er vor und warf sich über den zappelnden Katzenleib. Vielleicht hoffte er, der Aufprall würde sie töten. Aber jetzt lag er auf dem Tier und konnte fühlen, dass die Katze lebte, sich unter seinem Bauch wand und in den Getreidesäcken verkrallte, die man für ihn zu einer Jacke zusammengenäht hatte.
    Andrej hielt sich flach auf der Katze, damit sie nicht entkommen konnte, und sah sich mit flehentlichem Blick nach Pavel um, damit der die Sache übernahm:
    »Das Biest lebt noch!«
    Pavel kam angelaufen, ließ sich auf die Knie fallen und schob seinen Arm unter den Körper seines jüngeren Bruders, um sogleich Bekanntschaft mit dem zuschnappenden Maul der Katze zu machen. Er wurde gebissen und riss die Hand heraus. Ohne auf seinen blutenden Finger zu achten, kroch er zur anderen Seite und schob seine Hand wieder hinein. Diesmal erwischte er den Schwanz. Langsam krabbelten seine Finger den Rücken der Katze hinauf. Gegen diesen Angriffspunkt konnte das Tier sich nicht wehren.
    Andrej rührte sich nicht, fühlte aber, wie unter ihm der Kampf tobte, fühlte, wie die Hand seines Bruders sich dem Kopf der Katze näherte, immer näher und näher kam. Die Katze spürte, dass es um ihr Leben ging, und sie fing an, auf alles einzubeißen, die Jacke, den Schnee, rasend vor Wut und Angst. Andrej konnte das Getümmel in seinem Bauch fühlen. Dem Beispiel seines Bruders folgend, brüllte er: »Mach sie tot! Mach sie tot! Mach sie tot!«
    Pavel brach der Katze das Genick. Einige Augenblicke lang rührten sie sich beide nicht, lagen nur reglos da und atmeten schwer. Pavel legte seinen Kopf auf Andrejs Rücken, eine Hand umklammerte immer noch den Hals der Katze. Schließlich zog er seine Hände unter seinem Bruder hervor und stand auf. Andrej blieb im Schnee liegen, er wagte nicht
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