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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44
Autoren: Tom Rob Smith
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Andrejs Kopf eine Collage aus Zeitungsausschnitten: immer und immer wieder dasselbe Foto. Sein Foto, wie er triumphierend neben dem rauchenden Wrack eines Panzers stand, ein Held der Sowjetunion, ein Sinnbild des Sieges.
    »Pavel, wieso hast du so lange gebraucht?« Sein kleiner Bruder deutete auf den leeren Stuhl ihm gegenüber.
    Leo fühlte sich außerstande, etwas anderes zu tun, als der Aufforderung nachzukommen. Er merkte, dass er nicht mehr Herr der Lage war. Sein Bruder war weit davon entfernt, erschrocken oder auf dem falschen Fuß erwischt worden zu sein, irgendwelche Worte zu stammeln oder gar Reißaus zu nehmen. Offenbar war er auf diese Begegnung vorbereitet. Leo dagegen war konsterniert und fand sich nicht zurecht.
    Also setzte er sich. Andrej ebenfalls. Hier ein Bruder, da ein Bruder, nach über zwanzig Jahren wieder vereint. Andrej fragte: »Du hast doch von Anfang an gewusst, dass ich es war, oder?«
    »Von Anfang an?«
    »Nachdem du die erste Leiche gefunden hattest.«
    »Nein.«
    »Welche hast du zuerst gefunden?«
    »Die von Larissa Petrowa. In Wualsk.«
    »Ein junges Mädchen. Ich erinnere mich an sie.«
    »Und auch an Arkadi? In Moskau?«
    »In Moskau gab es mehrere.«
    Mehrere. Er führte das Wort im Mund, als sei das gar nichts. Wenn es mehrere gegeben hatte, dann hatte man sie alle vertuscht.
    »Er wurde dieses Jahr im Februar ermordet, auf den Gleisen.«
    »Ein kleiner Junge?«
    »Er war vier.«
    »An den kann ich mich auch erinnern. Da hatte ich meine Methode schon verfeinert. Und trotzdem hast du immer noch nicht gewusst, dass ich es war? Die frühen Morde waren nicht so klar, da war ich noch nervös.
    Ich durfte ja auch nicht zu eindeutig sein, du verstehst schon. Ich musste etwas machen, das nur du wiedererkennen würdest. Ich konnte ja schlecht einfach meinen Namen hinterlassen. Ich habe sozusagen mit dir kommuniziert, und zwar ausschließlich mit dir.«
    »Wovon redest du überhaupt?«
    »Mein Bruder, ich habe nie geglaubt, dass du tot bist.
    Ich wusste immer, du bist am Leben. Und mein ganzes Leben lang hatte ich nur einen Wunsch, ein Ziel: dich zurückzubekommen.«
    Lag da Wut in Andrejs Stimme? Oder Zuneigung? Vielleicht sogar beides zusammen? War es sein einziges Ziel gewesen, Leo zurückzubekommen, oder hatte er sich an ihm rächen wollen? Andrej lächelte. Es war ein warmherziges Lächeln, offen und ehrlich. So als hätte er gerade beim Kartenspiel gewonnen.
    »In einer Sache hatte dein dummer, tollpatschiger Bruder dann doch recht. Nämlich was dich betraf. Ich habe versucht, Mutter klarzumachen, dass du noch lebst, aber sie wollte nicht auf mich hören. Sie war sich sicher, dass jemand dich geschnappt und umgebracht hatte. Ich habe ihr gesagt, dass das nicht stimmt, dass du weggerannt bist, mit deiner Beute. Ich versprach ihr, dass ich dich finden würde. Und wenn ich dich gefunden hätte, würde ich nicht wütend auf dich sein, ich würde dir vergeben. Sie hat nicht auf mich gehört. Sie ist verrückt geworden. Sie vergaß, wer ich war, und hielt mich für dich. Nannte mich Pavel und bat mich, ihr zu helfen, so wie du ihr immer geholfen hast. Ich habe so getan, als sei ich du, das war einfacher, weil es sie glücklich machte. Aber sobald ich einen Fehler machte, merkte sie, dass ich gar nicht du war. Dann wurde sie wütend und schlug mich, so lange, bis ihr Zorn verraucht war. Und dann trauerte sie wieder um dich. Sie hörte nie mehr auf, dich zu beweinen. Jeder Mensch braucht einen Grund zum Leben. Ihrer warst du. Aber meiner warst du auch. Der einzige Unterschied zwischen ihr und mir bestand darin, dass ich mir sicher war – du lebst noch.«
    Leo hörte zu wie ein Kind, das vor einem Erwachsenen sitzt und sich von ihm hingerissen die Welt erklären lässt. Er konnte nicht einmal mehr die Hand heben, aufstehen oder irgendetwas anderes tun, um seinen Bruder zum Schweigen zu bringen. Andrej fuhr fort.
    »Unsere Mutter gab sich auf, aber ich habe auf mich aufgepasst. Zum Glück für mich war der Winter schon fast vorbei und das Leben wurde langsam wieder besser. Nur zehn Leute aus unserem Dorf haben überlebt, elf mit dir. In anderen Dörfern gab es überhaupt keine Überlebenden mehr. Als der Frühling kam und der Schnee taute, fing es an zu stinken. Ganze Dörfer verwesten und waren verseucht, man konnte sich ihnen gar nicht nähern. Aber im Winter waren sie noch ganz still und friedlich. Und die ganze Zeit über zog ich durch den Wald und jagte, jeden Abend, ganz allein.
    Ich
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