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Kelwitts Stern

Kelwitts Stern

Titel: Kelwitts Stern
Autoren: Andreas Eschbach
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Stressstabilität ausgesucht wurden, hatten ihre Schutzbefohlenen stets unter Kontrolle.
    »Wir sind hier nicht altmodisch, Herr Mattek. Die Mauern dieses Instituts stammen aus der Vergangenheit, zugegeben. Aber ich lege Wert auf die Feststellung, dass wir absolut auf der Höhe der Zeit sind – nicht nur, was unsere technische Ausstattung oder die Inhalte der Ausbildung anbelangt, die wir vermitteln, sondern auch in Bezug auf die Moralvorstellungen, mit denen diese Gesellschaft ins kommende Jahrhundert zu gehen beliebt.«
    Der Mann, der dies sagte und dabei die Fingerspitzen seiner Hände gegeneinanderlegte, mochte Mitte fünfzig sein, trug eine runde Nickelbrille, einen steingrauen, spitz zulaufenden Kinnbart und ein asphaltgraues Jackett. Seine Augen musterten den Besucher mit salbungsvoller Unerbittlichkeit. Seine Krawatte zeigte ein Muster aus kleinen Dampflokomotiven auf blauem Hintergrund.
    Er schien überhaupt ein Fan von Dampflokomotiven zu sein. Mehrere gerahmte Stiche an den Wänden zeigten historische Dampflokomotiven in voller Fahrt, und auf seinem Schreibtisch hatte er einen Briefhalter in Form eines kleinen Lokomotivschuppens stehen, aus dem sogar ein maßstabsgetreues Gleis herausführte, das über die ganze vordere Längsseite des Schreibtischs reichte.
    Man schrieb den 17. Dezember des Jahres 1999. Ein Freitag. Die mächtige, dunkelbraune Standuhr hinter dem Schreibtisch zeigte 11 Uhr 12.
    »Ich verstehe«, sagte Wolfgang Mattek, der dem Rektor in einem dicken Ledersessel gegenübersaß und sich vergeblich zu erinnern versuchte, wie vielen Rektoren er in den vergangenen Jahren gegenübergesessen hatte. Alle hatten sie diese Art von Blick gehabt. Es musste eine geheime Ausbildungsstätte für Schulleiter geben, in der man ihnen diesen seltsamen, für die Eltern unbotmäßiger Schüler reservierten Blick beibrachte.
    »Mit anderen Worten«, fuhr der Rektor fort, »wir sind uns dessen bewusst, dass sexuelle Beziehungen unter Heranwachsenden heutzutage nichts Außergewöhnliches mehr sind. Wir fördern das zwar nicht, aber wir tolerieren es.«
    »Ich verstehe«, sagte Mattek noch einmal. Ihm kam zu Bewusstsein, dass er mit eingezogenem Hals dasaß, als erwarte er einen Hieb in den Nacken. Verärgert über sich selbst, reckte er den Kopf in die Höhe, dehnte den Nacken leicht nach rechts und links und bedachte den Rektor mit einem grimmigen Blick, als der ihn verwundert musterte. »Ich verstehe. Sie tolerieren es.«
    »Ja«, nickte der Schulleiter. »Unsere Schüler nehmen an einem ausführlichen Sexualkundeunterricht teil, der über das hinausgeht, was staatlicherseits vorgeschrieben ist, und sind also, wie man so sagt, mit den Tatsachen des Lebens vertraut. Überdies hängt im Kellergeschoss ein allgemein zugänglicher Kondomautomat, den unser Hausmeister stets gefüllt hält. Mit anerkannten Markenpräparaten, wie ich betonen möchte.«
    »Aha«, sagte Wolfgang Mattek. Er hätte heute Morgen weiß Gott Besseres zu tun gehabt, als hierher zu fahren und sich abkanzeln zu lassen. Zumal er schon hätte Vorhersagen können, welchen Verlauf dieses Gespräch nehmen würde, bis zur Wortwahl, wenn es hätte sein müssen.
    »Ich denke, dass Sie aus all dem ersehen können, dass unsere moralischen Grenzen keineswegs enger als heutzutage üblich gesteckt sind, vielleicht sogar eher noch weiter«, fuhr der Mann mit dem steingrauen Spitzbart fort, wobei er die Spitzen seiner gespreizten Finger unduldsam gegeneinanderklopfte. »Aber wo auch immer diese Grenzen verlaufen mögen – Ihre Tochter hat sie zweifelsfrei überschritten.«
    Mattek sank unwillkürlich ein Stück in sich zusammen.
    »Es mag ja nicht ungewöhnlich sein, dass Jugendliche öfter wechselnde Beziehungen eingehen. Aber Sabrina hat, wie man mir glaubhaft versicherte, mit beinahe jedem männlichen Mitschüler zumindest eine Affäre gehabt, manchmal sogar mit mehreren gleichzeitig.«
    Mattek konnte einen abgrundtiefen Seufzer nicht mehr unterdrücken.
    »Es hat mehrere ernsthafte tätliche Auseinandersetzungen unter rivalisierenden Nebenbuhlern gegeben. Die letzte verlief so blutig, dass wir beide Kontrahenten ins nächste Krankenhaus bringen mussten, um ihre Platzwunden nähen zu lassen.«
    Mattek verdrehte die Augen und wünschte sich, er wäre woanders – und vor allem jemand anders.
    »Einer ihrer Klassenkameraden hat einen Selbstmordversuch unternommen, nachdem Sabrina die Affäre mit ihm beendet hatte.«
    Mattek ächzte nur.
    »Und«, fügte
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