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Kellerwelt

Kellerwelt

Titel: Kellerwelt
Autoren: Niels Peter Henning
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weißem Rauschen. Allmählich hatte er das
Gefühl, er schleppe ein kaputtes Radio in seinem Kopf herum.
    Kein Name, keine Adresse,
keine Kindheit, keine Vorlieben.
    Nun gut, wenn sein
Gedächtnis Urlaub eingereicht hatte, dann musste er zu anderen Mitteln greifen,
um seine Identität wieder herzustellen. Schließlich trug jeder Mensch eine
Reihe von Gegenständen bei sich, mit deren Hilfe er sich identifizieren ließ.
Zum Beispiel einen Ausweis.
    Der Gedanke, in seinem
eigenen Ausweis nachzuschauen, um sich wieder an seinen Namen zu erinnern,
wirkte zwar reichlich lächerlich, doch ihm blieb nichts anderes übrig. Er
fragte sich, wie er diese Episode seinen Freunden und Bekannten erklären
sollte. Wenn er ihnen erzählte, was er erlebt hatte, würden sie sich vor Lachen
krümmen. Zumindest nahm er das an, denn er konnte sich nicht an seine Freunde
erinnern. Er wusste noch nicht einmal, ob er Freunde hatte.
    Er öffnete den
Klettverschluss seiner Jacke und begann, in den Taschen nach einem Ausweis zu
suchen. Er suchte - und suchte - und suchte … und fand nichts.
    Diese Jacke musste über
mindestens 200 Taschen verfügen. Hinzu kamen noch einmal 150 Taschen in den
Hosen. Minimum. Wenn nicht gar mehr. Doch in keiner davon fand er einen
Ausweis. Er fand kein Portmonee, keinen Schlüssel, keine Scheckkarte, kein
Mobiltelefon. Er fand überhaupt nichts. Alle Taschen waren leer. Ein Abklopfen
seines Oberkörpers mit beiden Händen bestätigte es. Er führte keinen einzigen
dieser kleinen Hinweise mit sich, die eine Person beschrieben. Man hatte ihn
komplett ausgeräumt.
    Dann stutzte er. Hatte er da
eben einen Klettverschluss an seiner Jacke geöffnet? Keinen Reißverschluss?
Keine Knöpfe? Was trug er da eigentlich für eine Jacke? Und in welcher Hose
steckte er? Er schaute an sich herunter. Schwarze Kleidung. Militärischer
Schnitt. Robustes Material. Dazu geschnürte Stiefel. Sie passten wie angegossen
und wirkten solide und strapazierfähig. Auch wenn er sich nicht daran
erinnerte, jemals solche Stiefel besessen zu haben - er wusste, er konnte
tagelang darin marschieren, ohne sich eine Blase zu laufen.
    Es handelte sich eindeutig
nicht um Straßenkleidung. Also überlegte er, zu welchem Beruf diese Kleidung
wohl passen mochte. Möglicherweise gab ihm dies einen Hinweis auf seine
Identität.
    Er dachte an einen privaten
Sicherheitsdienst. Doch das passte nicht. Auf deren Kleidung prangte meist ein
Schriftzug. „Security" oder so. An seiner Kleidung konnte er keine
Beschriftung erkennen. Dann dachte er an paramilitärische Einheiten. Doch er
lebte nicht in einem Land, das paramilitärische Truppen unterhielt. Er lebte …
woanders. Er wusste es nicht mehr. In jedem Fall fühlte sich die Idee mit den
paramilitärischen Einheiten nicht richtig an.
    Er zog die Jacke aus und
begann, ihre Innenseite abzusuchen. Auch hier fand er nichts. Kein Etikett, das
Aufschluss über den Hersteller gegeben hätte. Auch keine Hinweise, wie diese
Jacke zu reinigen war.
    Er nahm an, in den
restlichen Kleidungsstücken würde er ebenfalls keine Anhaltspunkte finden.
Deswegen verzichtete er darauf, in den Stiefeln nachzusehen oder die Hose
fallen zu lassen. Er fasste aber kurz in seinen Nacken und tastete den Bund
seines T-Shirts ab. Nichts. Kein Etikett.
    Und er selbst? Trug er
vielleicht irgendwelche Tätowierungen? Allmählich driftete diese Sache zwar ins
Absurde ab, doch er warf einen Blick auf seine Unterarme. Keine Tätowierungen.
Doch was er dort sah, ließ ihn wie angewurzelt stehen bleiben.
    Er sah einen Einstich in
seiner linken Armbeuge.
    Er benötigte einen Moment,
um diese Entdeckung zu verdauen. Dann setzte er sich wieder in Bewegung.
Immerhin wusste er nun, in welche Richtung sich sein Gedächtnis verabschiedet
hatte. Keine Sauforgie, kein Filmriss, kein Unfall. Stattdessen hatte man ihn
entführt und ihm irgendwelche Chemikalien in die Blutbahn gepumpt.
    Danach hatte man ihn hier
ausgesetzt, mit einem Kopf, so hohl wie ein aufgeblasener Luftballon. Das Zeug,
das man ihm injiziert hatte, hatte sein Gedächtnis zugemauert. Vielleicht hatte
es seine Erinnerungen auch geradewegs aus seinem Schädel gespült. Wenn es sich
so verhielt, dann war alles verloren. Dann war seine Identität am Arsch, und
zwar endgültig.
    Doch weswegen hatte man ihm
so etwas angetan? Was wurde von ihm erwartet? Weswegen wurde er verfolgt? Er
wusste es nicht. Er wusste noch nicht einmal, woher er von seinem Verfolger
wusste.
    Er zog seine Jacke wieder
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