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Keine E-Mail fuer Dich

Keine E-Mail fuer Dich

Titel: Keine E-Mail fuer Dich
Autoren: Franziska Kuehne
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werden Freiwillige vom Roten Kreuz Sie ins Lager führen, gehen Sie zu Ihrem zugewiesenen Platz.« Der Vater fährt mit dem Auto und seiner Familie ins Camp. Ein Rote-Kreuz-Mitarbeiter: »Wir haben Internet hier, aber es ist leider nicht genug für alle da. Sie haben nur ein ganz klein wenig Internet. Der Ausschlag ist nur einen Balken stark, darum müssen wir sparsam rationieren. Unterschreiben Sie hier und nutzen Sie die Zeit, wenn Ihr Name aufgerufen wird. Jede Familie bekommt 40 Sekunden Internet pro Tag.« Der Vater ganz erschrocken: »40-Sekunden? Das reicht nicht mal, um was auf Wikipedia nachzuschlagen!«
    Aber mehr gibt es nicht, alle müssen damit auskommen. Auf einem Tisch im Freien steht ein Computer, davor sitzt ein Mann, der online ein paar Bücher bestellt. Soldaten reißen ihn mit Gewalt vom Tisch, denn die Zeit ist um. Der Mann ist ganz verzweifelt, schreit und wehrt sich, denn er hat die Versandadresse noch nicht eingegeben.
    Die Vorstellung, wegen Internetausfalls in einem Flüchtlingslager zu campen, ist schon sehr absurd. Man hat eher den Eindruck eines kriegsähnlichen Zustands. Doch die Lage ist ernst.
    Mithilfe des Fernsehens versuchen alle, sich über die Geschehnisse auf dem Laufenden zu halten. Dort kommt ein Fax an, und es wird verkündet, dass die Regierung Fachleute zum Internet geschickt hat, um es zu reparieren.
    Der Vater ist sauer, denn er kann sich keine Internetpornos anschauen, er reklamiert im Camp etwas private Internetzeit. »Hey, wir versuchen hier nur durchzuhalten, jeder muss mit dem klarkommen, was er kriegt«, versucht ein Soldat ihm klarzumachen. Der Vater erwidert entrüstet: »Aber ich hab ’ schon zwei Wochen nicht mehr onaniert. Sie verstehen mich nicht, ich brauche das Internet. Ich hab ’ mich daran gewöhnt, auf Knopfdruck alles sehen zu können, da kann man nicht mehr zum Playboy zurück.«
    »Man kann nicht mehr zum Playboy zurück«, der Vater bringt es mit diesem Satz auf den Punkt. So sehr haben sich alle an die »schöne«, ständig verfügbare Pornografie gewöhnt.
    Die Tochter quengelt ihre Familie voll, niemand würde ihre »wahre Liebe« verstehen, sie müsse dringend mit ihrem Freund chatten. Die Soldaten schicken die Camp-Bewohner unter starkem Protest ins Bett, das Internet wird abgeschaltet und weggesperrt. Da die Regierung bei der Reparatur des Internets scheitert, lässt sie einen mutigen kleinen Jungen dorthin. Dieser repariert es am nächsten Tag, indem er den Stecker rauszieht und wieder reinsteckt. Plötzlich funktioniert das Internet wieder, alle jubeln und sind glücklich. Die Tochter hält ihren Laptop überglücklich in den Händen, jetzt kann sie endlich wieder mit »ihrem Süßen« chatten. Ihr Chatfreund, »dieser Süße«, ist auch im Camp und steht ihr plötzlich gegenüber. »Shelley? Ich bin es, Amir, dein Freund.« Die Tochter ist etwas verdutzt und weiß gar nicht, was sie ihrem Gegenüber sagen soll. Ihr Online-Freund schlägt vor, ihr zu schreiben, sobald er wieder zu Hause ist. Die Tochter willigt ein und entfernt sich schnell vom »realen Objekt ihrer Begierde«. Jeder geht seiner Wege, und die Tochter ist glücklich, dass sie wieder »zusammen« sind.
    Die Tochter kann mit ihrem »Freund« gar nichts anfangen, als sie sich zufällig tatsächlich in der Wirklichkeit begegnen. Auch hier wird noch mal schön verdeutlicht, wie virtuelle Beziehungen funktionieren: nämlich gar nicht.
    Alle fahren wieder nach Hause. Der Bürgermeister hält eine Rede im Rathaus: »Und was genau haben wir aus dieser Tortur gelernt? Das Internet war fort, und es ist zurückgekommen. Für wie lange, wissen wir jedoch nicht. Wir können das Internet nicht länger als selbstverständlich ansehen. Wir als Land müssen aufhören, es überzustrapazieren. Klar?! Wir dürfen das Internet nur dann nutzen, wenn wir es brauchen. Es ist einfach zu denken, wir können das Internet nach Belieben aufbrauchen. Aber ich sage euch, wenn wir dem Internet nicht mit dem Respekt begegnen, den es verdient, könnte es eines Tages für immer fort sein. Also lasst uns mit dem Internet leben, nicht nur dafür. Kein Browsen mehr ohne erkennbaren Grund, kein endloses Surfen auf unseren Laptops, während der Fernseher läuft. Und zu guter Letzt müssen wir lernen, das Internet für Pornos nur zweimal am Tag zu gebrauchen. Höchstens!« Er erntet jubelnden Beifall.
    Ich stelle mir vor, wie es tatsächlich wäre, wenn morgen das Internet abgestellt werden würde. Wäre es
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