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Kein ganzes Leben lang (German Edition)

Kein ganzes Leben lang (German Edition)

Titel: Kein ganzes Leben lang (German Edition)
Autoren: Daniela Benke
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einen Augenblick. Sie trat an das Fenster und schob den Vorhang zur Seite. Es war dunkel draußen. Im fahlen Schein der Straßenlaterne floss das schwarze Wasser durch das Kanalbett, langsam, aber unaufhaltsam. Lucrezia fröstelte. Anna hatte sie seit der Taufe nicht mehr kontaktiert. Das war verdächtig. Das sprach für sich.
    Die Türschelle fuhr ihr durch Mark und Bein. Ihr Herz klopfte wild. Das war Anna, schoss es ihr durch den Kopf. Sie sah aus dem Fenster, konnte aber niemanden erkennen. Der Kanal war menschenleer. Es klopfte an der Wohnungstür. Lucrezias Herz blieb stehen. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. Jemand hatte sie hereingelassen. Hastig eilte sie in die Küche und bewaffnete sich mit einem Brotmesser. Auf dem Weg zur Wohnungstür fiel sie über einen Schuh. Sie konnte sich im letzten Moment an der Kommode festhalten. Der Lärm war Anna bestimmt nicht entgangen. Sie hatte sich verraten.
    „Lucrezia, bist du da?“, ertönte eine weibliche Stimme gedämpft durch die Tür. Lucrezia runzelte die Stirn. Das war nicht Annas Stimme, es war die Stimme ihrer Mutter. Das konnte nicht sein. Sie hatte ein Leben lang Sizilien nicht verlassen. Lucrezia riss die Tür auf. Ihre Mutter sah sie erstaunt an. Lucrezia ließ das Messer fallen und fiel ihr schluchzend in die Arme.
     
    „Mein armes Mädchen, was haben sie nur mit dir gemacht?“ Ihre Mutter strich ihr sanft über den Kopf. Sie lag an sie gekuschelt auf dem Bett. Erst stockend, dann immer schneller
    sprudelten die Worte aus ihr heraus. Ihre Mutter hörte kommentarlos zu.
    „Das Schlimmste ist, dass ich Helene auf dem Gewissen habe. Das habe ich nicht gewollt. Ihn
    sollte es treffen.“ Allein der Gedanke drohte sie zu erdrücken.
    „Du hast Helene nicht auf dem Gewissen“, erwiderte ihre Mutter ruhig.
    „Wie bitte?“ Lucrezia richtete sich auf und sah sie an.
    „Ich hatte zwei Salzstreuer im Regal, einen mit Gift, einen ohne. Ich habe danebengegriffen.“ Es dauerte einen Augenblick, bis Lucrezia begriff.
    „Aber wer hat dann Helene umgebracht?“
    „Vielleicht niemand.“
    „Glaubst du, dass Anna bei Christiano nachgeholfen hat?“
    „Ich hätte es getan.“
    Lucrezia fröstelte. „Ich habe Angst, dass sie es auf mich abgesehen hat.“
    „Das glaube ich nicht. Sie hat bisher nichts unternommen“, sagte ihre Mutter.
    Lucrezia rappelte sich auf.
    „Ich brauche jetzt etwas Starkes.“
    „Ich auch.“
    Sie sah ihre Mutter entgeistert an.
    „Du trinkst nicht.“
    „Heute schon.“
    Lucrezia holte Gläser und Grappa aus der Küche und schenkte ein. Dann zündete sie sich eine
    Zigarette an.
    „Gibst du mir auch eine?“
    „Mama!“
    „Fang nicht wie dein Vater an.“ Ihre Mutter funkelte sie an.
    Wortlos reichte Lucrezia ihr die Zigarette.
    Als der Grappa leer war, tranken sie einen zweiten. Als auch der leer war, sagte ihre Mutter:
    „Ich wollte schon immer mal auf den Zuckerhut, Samba tanzen und Caipirinhas an der Copacabana trinken. Kommst du mit?“
    „Nach Brasilien?“ Lucrezia sah ihre Mutter ungläubig an.
    „Ich fliege in ein paar Tagen. Vielleicht gibt es noch Plätze auf derselben Maschine.“
    Lucrezia überlegte nicht lange.
    „Dann machen wir auch einen Abstecher zum Amazonas. Ich möchte Piranhas angeln.“
     
    Anna nahm sich ein Plätzchen aus der silbernen Schale, die auf dem Couchtisch stand. Die herbstliche Sonne stand tief und tauchte das Wohnzimmer in ein goldenes Licht. Heute waren die neuen Vorhänge geliefert worden. Helenes alte Möbel hatte sie entweder restaurieren lassen oder ersetzt. Geld genug hatte sie. Christianos Familienvermögen war an sie gefallen. Das hatte sie gehofft. Im Falle einer Scheidung hätte sie davon vielleicht gar nichts gesehen. Ein netter Nebeneffekt.
    Sie schob den weißen, edlen Vorhang zur Seite. Im Garten arbeitete der Landschaftsgärtner mit seinen Mitarbeitern. Antonio beaufsichtigte sie. Er lief geschäftig gestikulierend hin und her. Wie sie wohl kommunizierten? Zwischen ihnen tollte Laura. Sie ähnelte Christiano von Tag zu Tag mehr. Ein Schatten legte sich über Annas Gesicht. Sie hatte keine Wahl gehabt. An der Sache wäre sie zugrunde gegangen.
    Ab und zu blickte Antonio zu den Terrassenfenstern und warf ihr eine Kusshand zu. Sie winkte zurück. Helene hätte sich amüsiert. Antonio konnte Christiano nicht das Wasser reichen. Aber er konnte sie auch nicht unglücklich machen. Dazu liebte sie ihn zu wenig. Oft dachte sie an Lucrezia.
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