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Kein Friede den Toten

Kein Friede den Toten

Titel: Kein Friede den Toten
Autoren: H Coben
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hielt sie ihn immer noch in ihrem Bann. »Ich muss packen.«
    Matt sah ihr nach. Einen Moment lang blieb er noch in der Tür stehen. Er war bester Stimmung. Er war tatsächlich glücklich, und das jagte ihm eine Heidenangst ein. Das Gute ist ungeheuer zerbrechlich. Das lernt man, wenn man einen Jungen
tötet. Das lernt man, wenn man vier Jahre in einem Hochsicherheitsgefängnis sitzt.
    Das Gute ist so fein, so zart, dass es schon von einem leichten Windstoß zerstört werden kann.
    Oder vom Klingeln eines Telefons.

    Auf der Arbeit vibrierte Matts Fotohandy.
    Ein Blick aufs Display verriet ihm, dass es Olivia war. Matt hatte noch immer den alten Doppelschreibtisch, bei dem zwei Leute sich gegenübersaßen. Die andere Seite war allerdings seit drei Jahren verwaist. Sein Bruder Bernie hatte den Schreibtisch gekauft, als Matt aus dem Gefängnis gekommen war. Vor dem Ereignis, das die Familie beschönigend den »Ausrutscher« nannte, hatte Bernie große Pläne für die »Hunter Brothers« gehabt. An diesen Plänen wollte er festhalten. Matt würde keine bleibenden Schäden davontragen. Der Ausrutscher war nicht mehr als ein Schlagloch in der Straße gewesen, die sie hinter sich gelassen hatten, und jetzt nahmen die Hunter Brothers wieder Fahrt auf.
    Bernie hatte das so überzeugend vorgebracht, dass Matt ihm fast geglaubt hätte.
    Sechs Jahre lang hatten sich die Brüder den Schreibtisch geteilt. Sie waren als Anwälte tätig – Bernie im lukrativen Wirtschaftssektor, Matt, dem als verurteiltem Straftäter die Anwaltszulassung verwehrt worden war, kümmerte sich um die Bereiche, die weder lukrativ waren, noch mit Wirtschaft zu tun hatten. Bernies Partner in der Kanzlei fanden das Arrangement etwas seltsam, aber die Brüder legten beide keinen gesteigerten Wert auf Privatsphäre. Sie hatten sich die ganze Kindheit und Jugend ein Zimmer geteilt. Bernie hatte oben im Etagenbett gelegen: eine Stimme von oben in der Dunkelheit. Beide sehnten sich nach dieser Zeit zurück – Matt auf
jeden Fall. Er fühlte sich allein nicht wohl. Mit Bernie im Zimmer fühlte er sich wohl.
    Sechs Jahre lang.
    Matt legte die Handflächen auf den Mahagoni-Schreibtisch. Er hätte ihn längst rausschmeißen sollen. Bernies Seite war seit drei Jahren unbenutzt, trotzdem schaute Matt manchmal in der Erwartung hinüber, dort seinen Bruder zu erblicken.
    Wieder vibrierte das Fotohandy.
    Eben hatte Bernie noch alles gehabt – eine tolle Frau, zwei tolle Jungs, das große Haus im Vorort, die Teilhaberschaft an einer renommierten Kanzlei, Gesundheit und Liebe und die Anerkennung seiner Mitmenschen –, und kurz darauf warf die Familie Erde auf seinen Sarg und versuchte, das Ganze zu begreifen. Ein Aneurysma im Gehirn, hatte der Arzt gesagt. Mit so etwas könne man jahrelang herumlaufen, dann setze es dem Leben manchmal schlagartig ein Ende.
    Das Handy war auf »vibrieren – dann klingeln« eingestellt. Der Vibrationsalarm brach ab, und der alte Batman-Song aus der Fernsehserie erklang: Der mit dem einfallsreichen Text, bei dem im Prinzip eine Weile nur »nah-nah-nah« gesungen wurde, bis dann der Ruf »Batman!« ertönte.
    Matt nahm das Handy vom Tisch.
    Sein Finger lag auf der Annehmen-Taste. Etwas seltsam war das schon. Denn obwohl Olivia in der Computerbranche arbeitete, konnte sie mit technischen Geräten überhaupt nicht umgehen. Sie benutzte ihr Handy kaum, und selbst wenn, wusste sie doch, dass Matt im Büro war. Normalerweise hätte sie ihn auf dem Festnetzanschluss angerufen.
    Matt drückte die Taste, worauf eine Meldung erschien, die besagte, dass ein Foto empfangen werde. Auch das war seltsam. Trotz ihrer anfänglichen Begeisterung hatte Olivia den Umgang mit der Foto-Funktion noch nicht ausprobiert.
    Seine Sprechanlage summte.

    Rolanda – Matt hätte sie als seine Sekretärin oder Assistentin bezeichnet, allerdings nicht in ihrer Gegenwart, weil sie ihn dann geschlagen hätte – räusperte sich. »Matt?«
    »Ja.«
    »Marsha ist auf Leitung zwei.«
    Ohne den Blick vom Handy-Display abzuwenden, nahm Matt den Hörer ab und begrüßte seine Schwägerin, Bernies Witwe.
    »Hey«, sagte er.
    »Hey«, sagte Marsha. »Ist Olivia noch in Boston?«
    »Ja. Ich glaube, sie schickt mir gerade ein Foto von ihrem neuen Handy.«
    »Oh.« Nach einer kurzen Pause fragte sie. »Kommst du heute noch raus?«
    Ein weiterer Schritt in Richtung Familie war der fast abgeschlossene Kauf eines Hauses im gleichen Viertel, in dem auch Marsha und die Jungs
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