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Katzenbach: Kriminalroman (German Edition)

Katzenbach: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Katzenbach: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Isabel Morf
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Lotte,
natürlich gehst du hin; warum denn nicht?«
    »Ich möchte
heute bei dir bleiben.« Das Mädchen schmiegte sich an sie. Ach was, dachte Nadine,
ist doch egal. »Dann bleibst du eben hier«, sagte sie müde. Lotte war zwar groß
für ihr Alter, aber in letzter Zeit schien sie von ihrem Verhalten her jünger zu
sein als ihre viereinhalb Jahre. Sie war entweder sehr anhänglich oder sie zog sich
in ihre Märchenwelten zurück. Nadine machte sich daran, das Baby auszuziehen. Heute
war es vier Monate alt. Vier Monate, dachte sie, eine Ewigkeit, und Jahre liegen
noch vor uns. Es kann nicht so weitergehen, es muss sich etwas ändern. Ich muss
mich ändern, die Situation muss sich ändern. Sie warf die Windel weg und nahm ein
feuchtes Tuch, um das Kind zu waschen. Sie betrachtete den kleinen, dicht behaarten
Körper. Ihr Herz zog sich zusammen. Warum gewöhne ich mich nicht endlich daran?,
fragte sie sich. Warum wird es immer schlimmer?
    »Wollen
wir Luzia wieder einmal rasieren?«, schlug Lotte vor, die neben dem Wickeltisch
stand. Vorsichtig streichelte sie die Kleine.
    Nadine schüttelte
den Kopf. »Sie ist hungrig«, sagte sie, »sie braucht rasch ihr Fläschchen.« Es war
eine Ausrede. »Vielleicht später.« Später. Sie mochte gar nicht an den Tag denken,
der vor ihr lag. Das Nötigste im Haushalt machen. Mittagessen für sich und Lotte.
Warten, bis es Abend war. Bis Stefan kam. Früher, dachte sie, früher war es ganz
anders. Ich war anders. Als Lotte ein Baby war, waren wir glücklich. Alles war einfach.
Ich habe Lotte gestillt, geherzt, geküsst, sie hübsch angezogen, sie spazierengefahren.
Leute sind stehengeblieben und haben sie bewundert. Abends ist Stefan heimgekommen,
hat mit ihr gespielt, sie hat gelacht, ihr glucksendes Babylachen, bis sich ihr
Gesichtchen verzogen hat, sie in Weinen ausgebrochen ist und wir sie getröstet haben,
mit einem Milchfläschchen, einem Püppchen, einem Wiegenlied. Wir waren eine kleine,
glückliche Welt für uns, Stefan, Lotte und ich.
    Die Milch
war warm, Nadine setzte sich mit der Kleinen im Arm an den Küchentisch und gab ihr
zu trinken. Sie saugte eifrig. Immer wenn sie trank, waren ihre Hände zu Fäustchen
geballt, und die Augen hielt sie geschlossen.
    Jetzt sind
wir allein, dachte Nadine, alle vier. Und ich bin schuld. Ich habe dieses hässliche
Baby auf die Welt gebracht. Und ich kann es nicht lieben. Stefan darf es nicht merken.
Lotte darf es nicht merken. Ich muss irgendwie durchhalten. Vielleicht sind die
anderen gar nicht allein. Vielleicht sind Stefan, Lotte und Luzia diese kleine,
glückliche Einheit, wie wir es früher waren. Nur ich gehöre nicht dazu.
    Lotte, die
gern zuschaute, wie Luzia trank, lachte. »Guck, wie lustig sie aussieht.« Nadine
zwang sich zu einem Lächeln. Lotte schlenderte hinaus zum Sandkasten. Als das Baby
versorgt war, ging Nadine ins Bad. Duschte. Zog sich an. Sie schaute in den Spiegel.
Eine Frau von Mitte dreißig sah ihr entgegen, mittelgroß, braunhaarig, unauffällig.
Sie kämmte sich. Starrte sich an. Sie war blass. Ich sollte etwas Make-up auflegen,
dachte sie. Wie lange ist es her, seit ich mich zum letzten Mal schön gemacht habe?
Das war in Sils Maria gewesen. Vor einer Ewigkeit. Als sie sich einen Tag lang eingebildet
hatte, alles könnte wieder gut werden. Heute griff sie nicht einmal zur Wimperntusche.
Es war zehn Uhr. Noch siebeneinhalb Stunden, bis Stefan nach Hause kam. Siebeneinhalb
Stunden, die zu überstehen waren. Im Wohnzimmer startete sie den Computer und bestellte
beim Großverteiler die Lebensmittel, die sie in den nächsten paar Tagen brauchten.
Es gab zwar einen Coop in der Nähe, aber sie ging kaum noch hin. Stefan fand die
Neuerung eine gute Idee. »Klar, mach das, dann hast du mehr Zeit für die Kinder«,
hatte er gemeint. Mehr Zeit für die Kinder. Sie hatte genickt. Dankbar für die Erklärung,
die er angeboten hatte. Gleichzeitig war Bitterkeit in ihr hochgestiegen. Ob er
seine eigene Erklärung wirklich glaubte? Ich muss froh sein, wenn er mir glaubt,
das wusste sie.
    Sie bettete
Luzia in den Wagen. Das Baby trug nur ein Windelpaket, auf ein Hemdchen hatte Nadine
verzichtet, denn die Kleine hatte es mit ihrem Pelzchen schon genügend warm. Sie
schob den Wagen ins Freie und platzierte ihn unter einem der hohen Bäume mit ausladenden
Ästen und dichtem Blattwerk, die das Haus umgaben, damit die Kleine im Schatten
lag. Sie schlief. Nadine warf einen Blick um die Ecke, zum Sandkasten, wo Lotte
spielte.
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