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Kassandra

Kassandra

Titel: Kassandra
Autoren: Christa Wolf
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sie plötzlich dazwischentrat, den Pflichten des Beilagers imWege sein kann, so daß ich mir nicht zu helfen wußte und in Tränen ausbrach über seine Unsicherheit, die doch nur durch meine Ungeschicklichkeit verschuldet sein konnte. Jung, jung sind wir gewesen. Wie er mich küßte, mich streichelte und berührte, ich hätte getan, was er wollte, nur schien er nichts zu wollen, ich sollte ihm etwas verzeihen, aber ich verstand nicht, was. Gegen Abend schlief ich ein, ich weiß noch, ich träumte von einem Schiff, das den Aineias über glattes blaues Wasser von unserer Küste wegführte, und von einem ungeheuren Feuer, das sich, als das Schiff sich gegen den Horizont hin entfernte, zwischen die Wegfahrenden und uns, die Daheimgebliebenen, legte. Das Meer brannte. Dies Traumbild seh ich heute noch, so viele andre, schlimmere Wirklichkeitsbilder sich auch darübergelegt haben. Gern wüßte ich (was denk ich da! gern? wüßte? ich? Doch. Die Worte stimmen), gern wüßte ich, welche Art Unruhe, unbemerkt von mir, mitten im Frieden, mitten im Glück: so redeten wir doch! solche Träume schon heraufrief.
    Schreiend erwachte ich, Aineias, aufgestört, konnte mich nicht beruhigen und trug mich zur Mutter. Später erst, wenn ich all diese Szenen Tag und Nacht bei mir wieder durchnehmen mußte, bis sie ganz allmählich ihre Schärfe verloren – später erst wunderte ich mich, daß die Mutter ihn fragte, ob alles in Ordnung sei, und daß er, Aineias, knapp mit »Ja« antwortete. Daß daraufhin Hekabe sich bei ihm bedankte – das Merkwürdigste von allem; beschämend, doch wußte ich nicht, wieso. Ihn wegschickte. Mich schlafen legte wie ein Kind, nachdem sie mir einen Trunk eingeflößt hatte, der mir wohltat und alle Fragen und alle Träume auflöste.
    Es ist schwer in Worte zu fassen, durch welche Zeichen man untrüglich erfährt, wenn man über ein Geschehnis nicht weiter nachdenken darf. Aineias verschwand aus meinem Gesichtskreis, ein Muster erfüllte sich zum erstenmal. Aineias, das blieb ein glühender Punkt in meinem Innern, sein Name ein scharfer Stich, den brachte ich mir bei, sooft ich konnte. Aber ich verbot es mir, den rätselhaften Satz von Parthena der Amme verstehen zu wollen, die, als sie sich von mir verabschiedete, da ich nun erwachsen war, und ihre Tochter Marpessa meinem Dienst übergab, halb achtungsvoll, halb haßerfüllt vor sich hinmurmelte: Da habe die Alte also wieder ihren Kopf durchgesetzt, wenn auch diesmal, vielleicht, zu des Töchterchens Gutem. Und dann fragte auch sie mich, ob alles in Ordnung sei. Und ich erzählte ihr meinen Traum, wie ich es immer getan hatte, und sah zum erstenmal einen Menschen vor meinen Worten erbleichen. (Wie war das doch: Erschreckend? Aufreizend? Zur Wiederholung verlockend? Ist es wahr, daß ich, wie man es mir vorwarf, dieses Erbleichen später gebraucht habe?)
    Kybele hilf! flüsterte Parthena die Amme. Es war der gleiche Spruch, mit dem sie starb, kürzlich, glaube ich, ja, nach der Zerstörung Troias und vor der Überfahrt, als wir alle, wir Gefangenen, in den schrecklichen Herbstwettern, den bebenden Weltuntergangswettern auf dem nackten Strand zusammengetrieben wurden. Kybele hilf, stöhnte die alte Frau, aber es war ihre Tochter Marpessa, die ihr half, mit einem Trunk, den sie ihr reichte und von dem Parthena einschlief, um nicht mehr zu erwachen.
    Wer war Kybele?
    Da wich die Amme zurück. Es war ihr verboten, das sah ich, den Namen auszusprechen. Sie wußte, ich wußte es auch, daß man Hekabe zu gehorchen hatte. Schier unglaublich scheint es mir heute, was ihre Befehle bewirkten, kaum kann ich es mir ins Gedächtnis zurückrufen, daß ich einstmals heiß empört gegen diese Befehle aufbegehrte. Sie habe mich immer nur schützen wollen, hat sie mir dann gesagt. Aber sie habe mich unterschätzt. Inzwischen hatte ich Kybele gesehen.
    Wie oft ich später jenen Weg gegangen bin, allein und mit den anderen Frauen – nie habe ich vergessen, wie mir zumute war, als Marpessa mich eines Abends in der Dämmerung zum Berg Ida führte, den ich immer vor Augen gehabt, insgeheim als meinen Berg geliebt, oft und oft begangen hatte und zu kennen glaubte; wie Marpessa mir voran in eine buschbewachsene Bodenfalte eingetaucht war. Auf Pfaden, die sonst nur Ziegen kletterten, ein Feigenwäldchen durchquert hatte, und wie wir plötzlich, von jungen Eichen umgeben, vor dem Heiligtum der unbekannten Göttin standen, dem eine Schar braunhäutiger, meist schmalgliedriger Frauen
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