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Kassandra

Kassandra

Titel: Kassandra
Autoren: Christa Wolf
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Zunge spürte und mitten in der Nacht aus dem Tempelbezirk, in dem zu schlafen ich zu jener Zeit verpflichtet war, in die Zitadelle, in den Palast, ins Zimmer, ins Bett der Mutter floh. Mir blieb der Augenblick kostbar, als Sorge um mich Hekabes Gesicht veränderte, aber sie hatte sich in der Gewalt. Ein Wolf, fragte sie kühl. Warum ein Wolf, wie kommst du darauf. Und woher die Mäuse. Wer sagt dir das.
    Apollon Lykeios. Die Stimme Parthenas der Amme. Der Gott der Wölfe und der Mäuse, von dem sie dunkle Geschichten wußte, die sie mir zuraunte und die ich niemandem weitersagen durfte. Daß dieser zwiespältige Gott der gleiche sei wie unser unanfechtbarer Apoll im Tempel, das hätte ich nie gedacht. Nur Marpessa, Parthenas Tochter, mir gleichaltrig, wußte Bescheid und schwieg wie ich. Die Mutter bestand nicht darauf, daß ich Namen nannte, denn mehr noch als des Sonnengottes Wolfsgestalt beunruhigte sie meine Angst, mich mit ihm zu vereinigen.
    Wenn sich ein Gott zu ihr legen wollte: War das nicht ehrenvoll für eine Sterbliche! Das war es. Und daß der Gott, zu dessen Dienst ich mich bestimmt, mich ganz besitzen wollte – war es nicht natürlich? Doch. Also.Was fehlte? – Nie, niemals hätte ich diesen Traum der Hekabe erzählen sollen! Sie blieb dabei, mich auszuforschen.
    Hatte ich denn nicht im Jahr zuvor, kaum daß ich zum erstenmal geblutet hatte, mit den anderen Mädchen im Tempelbezirk der Athene gesessen – sitzen müssen! dacht ich wie damals, und wie im Jahr zuvor zog meine Kopfhaut sich vor grauenvoller Scham zusammen –, und war nicht alles seinen vorbestimmten Gang gegangen? Die Zypresse, unter der ich saß, könnte ich noch bezeichnen, falls die Griechen sie nicht angezündet haben, die Form der Wolken könnte ich beschreiben, sie kamen vom Hellespont in lockerem Zug. »Lokkerem Zug«. Es gibt diese sehr albernen Wörter, ich kann mich mit ihnen nicht mehr aufhalten. Ich denke einfach an den Geruch von Oliven und Tamarisken. Die Augen schließen, ich kann es nicht mehr, konnte es aber. Öffnete sie einen Spaltbreit und nahm die Beine der Männer in mich auf. Dutzende von Männerbeinen in Sandalen, man sollte nicht glauben, wie verschieden, alle widerlich. An einem Tag kriegte ich fürs Leben genug von Männerbeinen, keiner ahnte es. Ich spürte ihre Blicke im Gesicht, auf der Brust. Nicht einmal sah ich mich nach den anderen Mädchen um, die nicht nach mir. Wir hatten nichts miteinander zu tun, die Männer hatten uns auszusuchen und zu entjungfern. Ich hörte lange, eh ich einschlief, das Fingerschnipsen und, in wieviel verschiedenen Betonungen, das eine Wort: Komm. Um mich wurde es leer, nach und nach waren die andern Mädchen abgeholt worden, die Töchter der Offiziere, Palastschreiber, Töpfer, Handwerker, Wagenlenker und Pächter. Die Leere kannte ich von klein auf.Ich erfuhr zwei Arten von Scham: die, gewählt zu werden, und die, sitzenzubleiben. Ja, ich würde Priesterin werden, um jeden Preis.
    Mittags, als Aineias kam, fiel mir auf, daß ich ihn seit langem schon in jeder Menge sah. Er kam stracks auf mich zu, verzeih, sagte er, eher konnte ich nicht kommen. Als wären wir verabredet gewesen. Er hob mich auf – nein: Ich erhob mich, aber darüber stritten wir manchmal. Wir gingen in eine weit entfernte Ecke des Tempelbezirks und überschritten dabei, ohne es zu merken, die Grenze, hinter der die Sprache aufhört. Es ist ja nicht Hochmut, nicht nur Scheu, die auch, natürlich, wenn ich den Frauen, als wir allmählich auch über unsre Gefühle sprachen, nie ein Wort über Aineias sagte. Immer hielt ich mich zurück, niemals habe ich, was andre Frauen taten, mein Inneres nach außen gekehrt. Ich weiß, daß ich so die Schranke zwischen uns nie ganz einriß. Der unausgesprochene Name des Aineias stand zwischen mir und den Frauen, die, je länger der Krieg dauerte, vor ihren verwilderten Männern genausoviel Angst hatten wie vor dem Feind; die zweifeln konnten, auf wessen Seite ich wirklich war, wenn ich ihnen keine Einzelheiten lieferte, zum Beispiel über jenen Nachmittag an der Grenze des Tempelbezirks, da wir beide, Aineias und ich, wußten, was von uns erwartet wurde – beide durch Hekabe die Mutter. Da wir uns beide nicht imstande sahen, den Erwartungen zu entsprechen. Da jeder die Schuld für unser Versagen bei sich suchte. Die Amme und die Mutter und Herophile, die Priesterin, hatten mir die Pflichten des Beilagers eingeschärft, aber sie rechneten nicht damit, daß die Liebe, wenn
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