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Kassandra

Kassandra

Titel: Kassandra
Autoren: Christa Wolf
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hinweggehn.
    Jetzt verstand ich, was der Gott verfügte: Du sprichst die Wahrheit, aber niemand wird dir glauben. Hier stand der Niemand, der mir hätte glauben müssen; der das nicht konnte, weil er gar nichts glaubte. Ein Niemand, der nicht glaubensfähig war.
    Da habe ich den Gott Apoll verflucht.
    Was in der Nacht geschah, die Griechen werden es erzählen, auf ihre Art. Myrine war die erste. Dann Schlag auf Schlag und Hieb auf Hieb und Stich auf Stich. Blut floß durch unsre Straßen, und der Jammerton, den Troia ausstieß, hat sich in meine Ohren eingegraben, ich habe ihn seitdem bei Tag und Nacht gehört. Nun wird man mich von ihm befrein. Als sie mich aus Angst vor Götterbildern später fragten: ob es denn wahr sei, daß Klein Aias mich an der Athene-Statue vergewaltigt hätte, habe ich geschwiegen. Es war nicht bei der Göttin. Es war im Heldengrab, in dem wir Polyxena zu verstecken suchten, die laut schrie und sang. Wir, ich und Hekabe, stopften ihr den Mund mit Werg. Die Griechen suchten sie, im Namen ihres größten Helden, des Viehs Achill. Und sie haben sie gefunden, weil ihr Freund, der schöne Andron, sie verriet. Gegen seinen Willen, brüllte er, aber was hätte er denn machen sollen, da sie ihn doch mit Tod bedrohten. Laut lachend hat Klein Aias ihn erstochen. Polyxena war auf einmal ganz bei Sinnen. Töte mich, Schwester, bat sie leise. Ach ich Unglückselige. Den Dolch, den Aineias mir am Ende aufgedrängt, hatte ich hochfahrend weggeworfen. Nicht für mich, für die Schwester hätt ich ihn gebraucht. Als sie sie wegschleiften, war Klein Aias über mir. Und Hekabe, die sie festhielten, stieß Flüche aus, die ich noch nie gehört hatte. Eine Hündin, schrie Klein Aias, als ermit mir fertig war. Die Königin der Troer eine heulende Hündin.
    Ja. So war es.
    Und jetzt kommt das Licht.
    Als ich mit Aineias auf der Mauer stand, zum letztenmal das Licht betrachten, kam es zwischen uns zum Streit. Daran zu denken, habe ich bis jetzt vermieden. Aineias, der mich nie bedrängte, der mich immer gelten ließ, nichts an mir biegen oder ändern wollte, bestand darauf, daß ich mit ihm ging. Er wollte es mir befehlen. Unsinnig sei es, sich in den Untergang hineinzuwerfen, der nicht aufzuhalten sei. Ich sollte unsre Kinder nehmen – er sagte: unsre Kinder! – und die Stadt verlassen. Ein Trupp von Troern habe sich dazu bereit gefunden, und nicht die schlechtesten. Mit Vorräten versehen und bewaffnet. Und entschlossen, sich durchzuschlagen. Ein neues Troia irgendwo zu gründen. Von vorne anzufangen. Meine Anhänglichkeit in Ehren. Doch nun sei es genug.
    Du mißverstehst mich, sagte ich zögernd. Nicht Troias wegen muß ich bleiben, Troia braucht mich nicht. Sondern um unsretwillen. Um deinet- und um meinetwillen.
    Aineias. Lieber. Du hast mich verstanden, lange eh du’s zugabst. Es war ja klar: Allen, die überlebten, würden die neuen Herren ihr Gesetz diktieren. Die Erde war nicht groß genug, ihnen zu entgehn. Du, Aineias, hattest keine Wahl: Ein paar hundert Leute mußtest du dem Tod entreißen. Du warst ihr Anführer. Bald, sehr bald wirst du ein Held sein müssen.
    Ja! hast du gerufen. Und? – An deinen Augen sah ich, du hattest mich begriffen. Einen Helden kann ich nichtlieben. Deine Verwandlung in ein Standbild will ich nicht erleben.
    Lieber. Du hast nicht gesagt, das werde dir nicht passieren. Oder: Ich könnte dich davor bewahren. Gegen eine Zeit, die Helden braucht, richten wir nichts aus, das wußtest du so gut wie ich. Du hast den Schlangenring ins Meer geworfen. Du würdest weit, sehr weit gehen müssen, und was vorn ist, würdest du nicht wissen.
    Ich bleibe zurück.
    Der Schmerz soll uns an uns erinnern. An ihm werden wir uns später, wenn wir uns wiedertreffen, falls es ein Später gibt, erkennen.
    Das Licht erlosch. Erlischt.
    Sie kommen.

    Hier ist es. Diese steinernen Löwen haben sie angeblickt. Im Wechsel des Lichts scheinen sie sich zu rühren.

In Kassandra greift Christa Wolf auf einen Mythos des abendländischen Patriarchats zurück, den Trojanischen Krieg. Während Kassandra, die Seherin, auf dem Beutewagen des Agamemnon sitzt, überdenkt sie noch einmal ihr Leben. Mit ihrem Ringen um Autonomie legt sie Zeugnis ab von weiblicher Erfahrung in der Geschichte.
    Christa Wolfs Darstellung einer mythologischen Figur, die uns als faszinierende Zeitgenossin begegnet, wurde kurz nach ihrem Erscheinen zum Welterfolg und hat längst den Status eines Klassikers. Vom Entstehen ihrer wohl
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