Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kassandra

Kassandra

Titel: Kassandra
Autoren: Christa Wolf
Vom Netzwerk:
lebendig war. Killa und andre Frauen beteten zu ihr und legten Opfergaben nieder. Niemand hinderte sie daran. Wir drängten denen, die eine feste Hoffnung brauchten, nicht unser Wissen auf, daß wir verloren waren. Doch unsre Heiterkeit, die niemals ihren dunklen Untergrund verlor, war nicht erzwungen. Wir hörten nicht auf, zu lernen. Jede gab der anderen von ihrem ganz besonderen Wissen ab. Ich lernte Töpfe machen, Tongefäße. Ich erfand ein Muster, mit dem ich sie bemalte, schwarz und rot. Wir erzählten uns unsre Träume, viele staunten, wieviel sie uns verraten. Oft aber, eigentlich am meisten, redeten wir über die, die nach uns kämen. Wie sie wären. Ob sie uns noch kennten. Ob sie, was wir versäumt, nachholen würden, was wir falsch gemacht, verbessern. Wir zerbrachen unsdie Köpfe, wie wir ihnen eine Botschaft hinterlassen könnten, doch wir warn der Schrift nicht mächtig. Wir ritzten Tiere, Menschen, uns, in Felsenhöhlen, die wir, eh die Griechen kamen, fest verschlossen. Wir drückten unsre Hände nebeneinander in den weichen Ton. Das nannten wir, und lachten dabei, uns verewigen. Es wurde daraus ein Berührungsfest, bei dem wir, wie von selbst, die andere, die anderen berührten und kennenlernten. Wir waren gebrechlich. Da unsre Zeit begrenzt war, konnten wir sie nicht vergeuden mit Nebensachen. Also gingen wir, spielerisch, als wär uns alle Zeit der Welt gegeben, auf die Hauptsache zu, auf uns. Zwei Sommer und zwei Winter.
    Im ersten Winter schickte Hekabe, die manchmal kam und still dasaß, uns Polyxena. Sie hatte den Verstand verloren. Sie war irr geworden vor Angst. Wir fanden heraus, daß sie nur Weiches um sich ertrug, leichte Berührung, Dämmerlicht, gedämpfte Töne. Achill, erfuhren wir, hatte sterbend, im Tempel, Odysseus das Versprechen abgenommen, Polyxena, die ihn verraten hatte, nach der Griechen Sieg auf seinem Grab zu opfern. Ihr Antlitz war zerstört, doch wenn sie ganz von ferne eine Flöte hörte, konnte sie lächeln.
    Im ersten Frühling schickte Priamos nach mir. Ich ging und merkte, in den Straßen Troias kannte man mich nicht. Das war mir recht. Der Vater, der Gewesenes mit keinem Wort erwähnte, teilte mir trocken mit, da sei ein neuer möglicher Verbündeter, wie hieß er doch: Eurypilos. Mit einer frischen Truppe, nicht zu verachten. Doch der wollte, wenn er mit uns kämpfen sollte, mich zur Frau.
    Wir schwiegen etwas, dann wollte der König wissen,was ich dazu sage. Ich sagte: Warum nicht. Der Vater weinte schwächlich. Zornig hatte ich ihn lieber. Eurypilos kam, es gab Schlimmere. Er fiel am Tage nach der ersten Nacht mit mir, in einem der Verlegenheitsgefechte, die die Griechen führten, weil sie die Stadt nicht nehmen konnten. Ich ging wieder zum Skamandros, niemand verlor ein Wort über mein kurzes Wegsein. Im letzten Kriegsjahr war kaum eine Frau in Troia schwanger, neidisch, mitleidig, traurig besahen viele meinen Bauch. Als die Zwillinge geboren wurden – es war schwer, ich lag in Arisbes Höhle, einmal rief ich zur Göttin: Kybele hilf! – hatten sie viele Mütter. Und Aineias war ihr Vater.
    Alles, was man erleben muß, habe ich erlebt.
    Marpessa legt mir ihre beiden Hände an den Rücken. Ja, ich weiß. Bald kommen sie. Einmal will ich dieses Licht noch sehen. Das Licht, das ich gemeinsam mit Aineias sah, sooft wir konnten. Das Licht der Stunde, eh die Sonne untergeht. Wenn jeder Gegenstand aus sich heraus zu leuchten anfängt und die Farbe, die ihm eigen ist, hervorbringt. Aineias sagte: Um sich vor der Nacht noch einmal zu behaupten. Ich sagte: Um den Rest von Licht und Wärme zu verströmen und dann Dunkelheit und Kälte in sich aufzunehmen. Wir mußten lachen, als wir merkten, daß wir im Gleichnis sprachen. So lebten wir, in der Stunde vor der Dunkelheit. Der Krieg, unfähig sich noch zu bewegen, lag schwer und matt, ein wunder Drachen, über unsrer Stadt. Seine nächste Regung mußte uns zerschmettern. Ganz plötzlich, von einem Augenblick zum andern, konnte unsre Sonne untergehn. Liebevoll und genau haben wir ihren Gang an jedem unsrer Tage, die gezählt waren, verfolgt.Mich erstaunte, daß eine jede von den Frauen am Skamander, so sehr verschieden wir auch voneinander waren, fühlte, daß wir etwas ausprobierten. Und daß es nicht darauf ankam, wieviel Zeit wir hatten. Oder ob wir die Mehrzahl unsrer Troer, die selbstverständlich in der düstern Stadt verblieben, überzeugten. Wir sahn uns nicht als Beispiel. Wir waren dankbar, daß gerade wir das
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher