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Karneval der Alligatoren

Karneval der Alligatoren

Titel: Karneval der Alligatoren
Autoren: James G. Ballard
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Kreischen der Fledermäuse und das Knurren und Schwanzpeitschen der
Leguane. Sein Knöchel war stark geschwollen und schmerzte sehr, die dauernde
Überanstrengung hatte die Infektion verbreitet. Er schnitt sich einen Stock vom
Baum und humpelte langsam in den Schatten des Dschungels.
    Abends fing es an zu regnen; immer
wieder durchbrachen dicke Ströme aufleuchtend das dichte Blätterdach und
durchnäßten ihn von Kopf bis Fuß. Er hatte Angst, in der Nacht auszuruhen,
humpelte weiter und schoß nach angreifenden Leguanen, die von einem Schlupfloch
zum anderen hasteten.
    Ab und zu kam er auf eine Lichtung;
im blassen Schein leuchteten dort regenüberschwemmte Überreste eines Gebäudes
auf. Von Menschenhand stammende Bauten wurden jedoch immer seltener – hier im
Süden hatten Schlamm und Pflanzendecke alle Siedlungen längst überdeckt und
verschlungen.
    Drei Tage lang wanderte er ruhelos
durch den Wald; er nährte sich von riesigen Beeren, die wie Äpfel von den
Zweigen hingen, und schnitt sich einen neuen, dickeren Ast als Krückstock. Von
Zeit zu Zeit sah er links einen Dschungelfluß aufblitzen, überschäumend von den
letzten Regenfällen. Dichte Mangrovenhaine umstanden ihn und verwehrten den
Zugang zu seinem Ufer.
    Immer tiefer drang er in diesen
Zauberwald ein, der Regen rann ihm erbarmungslos über Kopf und Schultern.
Manchmal hörte das Strömen abrupt auf, Dampfwolken quollen dann zwischen den
Bäumen und zogen sich wie ein durchscheinendes Flies über den sumpfigen Boden,
bis der nächste Schauer sie wieder zerriß.
    In einem dieser Intervalle kletterte
Kerans inmitten einer großen Lichtung einen steilen Hang hinauf – er hoffte,
endlich einmal dem alles durchdringenden Nebel zu entkommen. Oben kam er in ein
enges Tal zwischen bewaldeten Hängen. Wellige Landschaft, wie die Dünen am
Strand, umgab ihn auf allen Seiten, tropfendes Grün, wohin er auch blickte.
Plötzlich tauchten vor ihm die Überreste eines Gebäudes auf – eines Tempels,
wie ihm schien. Schiefe Gitterpfosten führten zu einem Halbkreis flacher
Stufen, dahinter bildeten zerfallene Säulen eine Art Tor. Das Dach war
eingesunken, die Seitenwände nur noch knapp einen Meter hoch. Der zertrümmerte
Altar am anderen Ende gab die Sicht auf das Tal dahinter frei, über dem hinter
Nebelschleiern die riesige, orangefarbenen Sonnenscheibe versank.
    In der Hoffnung, hier Schutz für die
Nacht zu finden, ging Kerans zu dem Gemäuer vor. Wieder fing es an zu gießen.
Beim Altar stützte er die Hände auf die marmorne Tischfläche und betrachtete
die Sonnenscheibe, deren Oberfläche rhythmisch zuckte wie die Schlacke auf geschmolzenem
Metall.
    »Aahh-ah!« ein schwacher, kaum noch
menschlicher Schrei ertönte, wie das Stöhnen eines verwundeten Tieres. Kerans
sah sich hastig um, ob ihm etwa ein Leguan in die Ruine gefolgt war, aber Tal
und Dschungel lagen schweigend da, nur der Regen rauschte unaufhörlich über das
alte Gemäuer.
    »Aahh-ah!« jetzt hörte er den Schrei
dicht vor sich, in Richtung der verblassenden Sonne. Wie beim erstenmal war er
gleich nach einem Aufflackern der Sonne ertönt, Ausdruck des Protests oder der
Dankbarkeit oder beides zugleich.
    Kerans wischte sich das Gesicht
trocken, ging vorsichtig um den Altar und wäre fast über einen zerlumpten Mann
gefallen, der mit dem Rücken zur Steinwand dahinter saß. Offensichtlich hatte
er die Schreie ausgestoßen – sein Anblick ließ allerdings kaum vermuten, daß er
überhaupt noch lebte.
    Seine langen Beine staken wie
verkohlte Holzstücke vor, sie waren mit schmutzigen Fetzen und Rindenstücken
bedeckt. Auch seine Arme und die eingesunkene Brust waren ähnlich bedeckt –
kurze Lianenstücke hielten das Ganze einigermaßen zusammen. Das Gesicht war von
einem dünnen schwarzen Bart bedeckt, Regen rann über sein eingefallenes,
vorstehendes Kinn, das er dem dahinschwindenden Licht entgegenhielt. Ein paar
Sonnenstrahlen huschten noch über Gesicht und Hände; wie eine Klaue, grün und
bis zum Skelett abgemagert, hob sich plötzlich die eine – Leichenhand aus dem
Grabe, mußte Kerans unwillkürlich denken –, deutete zittrig zur Sonne und sank
dann wieder zu Boden. Als das Licht wieder aufzuckte, zeigte sich eine Reaktion
im Gesicht des Gespenstes. Alles Eingesunkene, Eingefallene wurde für einen
Augenblick wieder lebendig, als habe ein Atemzug dem Toten Leben eingehaucht.
    Kerans fühlte sich außerstande, näher
auf die eingesunkene Gestalt zuzugehen – der Mann sah aus wie
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