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Karneval der Alligatoren

Karneval der Alligatoren

Titel: Karneval der Alligatoren
Autoren: James G. Ballard
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konnte. Hunderte Meter lange Inseln bedeckten die
Wasserfläche, die Vegetation quoll von ihren Rändern weit über das Meer. Seit
ihrer Suche nach Hardman hatte sich durch die steigende Flut alles verändert.
Er zog den Motor hoch, setzte sein kleines Segel und kam mit Hilfe der kleinen
Brise rund fünf Kilometer in der Stunde weiter.
    Sein verwundetes Bein begann steif zu
werden. Er öffnete sein Verbandskästchen und legte dann eine Bandage an. Kurz
vor der Morgendämmerung wurden die Schmerzen unerträglich, er nahm eine
Morphintablette und fiel in schweren, unruhigen Schlaf. Im Traum dehnte sich
die große Sonne weiter aus; sie füllte das ganze Universum, und ihre Schläge
erschütterten alle Sterne ringsum.
     
    Um sieben Uhr früh wachte er auf, mit
dem Rücken gegen den Mast gelehnt, das Medizinkästchen offen auf seinem Schoß;
der Katamaran hatte sich an einem Farnbaum am Rande einer kleinen Insel
verfangen. Kaum zwei Kilometer weiter flog der Helikopter zirka fünfzig Meter
über dem Wasser; immer noch ratterte das Maschinengewehr. Kerans zog den Mast
ein und fuhr unter den Farnbaum. Während er wartete, rieb er sein Bein – noch
eine Tablette wollte er nicht nehmen – und aß eine kleine Tafel Schokolade, die
erste von zehn, die er hatte ergattern können. Ein Glück, daß er unter Riggs
jederzeit ungefragt Medizinen entnehmen durfte.
    Die Schießerei wiederholte sich alle
halbe Stunde; einmal flog Daley direkt über seinem Kopf hinweg, Kerans konnte
von seinem Versteck aus Riggs deutlich erkennen. Am späten Nachmittag gaben sie
es endlich auf.
    Kerans war völlig erschöpft. Die
Mittagstemperatur von über sechzig Grad hatte ihm alle Lebenskraft genommen, er
lag matt unter dem feuchten Segel, ließ das warme Wasser auf sich tropfen und
sehnte sich nach kühlerer Abendluft. Die Wasserfläche schien zu brennen, es sah
aus, als schwimme der Katamaran auf einem Flammenmeer. Unter eigenartigen
Visionen paddelte Kerans sich schwach mit einer Hand weiter.

15
     
     
    Am nächsten Tag hatte er mehr Glück:
Sturmwolken zogen vor die Sonne, es wurde merklich kühler, mittags waren es nur
noch knapp über dreißig Grad. Es war fast so dunkel wie bei einer
Sonnenfinsternis, und er belebte sich so sehr, daß er den Motor starten und mit
fünfzehn Kilometer pro Stunde weiterfahren konnte, immer nach Süden, der Sonne
zu, die in seinem Gehirn dröhnte. Spätabends, als der Regen peitschte, konnte
er sich auf einem Bein an den Mast lehnen und ließ sich von den schweren Güssen
die letzten Fetzen seiner Uniformjacke vom Leib reißen. Als es aufklarte, sah
er endlich den Südrand des Meeres vor sich: hohe, goldglänzende Dünen türmten sich
an seinem Ufer, nur der obere Rand der Dschungellandschaft dahinter war zu
sehen.
    Einen Kilometer vor dem Ufer hatte er
den letzten Tropfen aus dem Reservetank verbraucht. Er schraubte den Motor ab
und warf ihn ins Wasser, reffte das Segel und paddelte im Gegenwind langsam
weiter. Als er das Ufer erreicht hatte, war es schon dämmerig; dunkle Schatten
wanderten über die riesigen, grauen Hänge. Das Boot hinter sich herziehend,
humpelte er mühselig durch das seichte Wasser, zog das Gestell an Land und setzte
sich dann mit dem Rücken an eine der Tonnen gelehnt in den Sand. Vor
Erschöpfung schlief er sofort ein. Am nächsten Morgen nahm er das Fahrzeug
auseinander und trug die Stücke einzeln über einen Hang, da er hoffte, irgendwo
jenseits wieder einen Wasserweg zu finden. Ringsum wellten sich die Sandbänke
kilometerweit, ihre schlammige Oberfläche war von toten Tintenfischen und
Nautiloiden bedeckt. Immer weiter schleppte er seine Fässer und Bretter, vom
Meer sah er nichts mehr, er war allein mit diesen leblosen Tieren, allein unter
dem wolkenlosen Himmel. Das glanzlose Blau stand so sehr im Gegensatz zu der
sturmbewegten, grauen Wolkendecke der letzten Tage, daß es eher wie eine Vision
wirkte, ein Psychosehimmel aus seinen Träumen. Manchmal verirrte er sich zwischen
den Dünen, stolperte in ausgetrockneten Becken über Risse und Sprünge, wie ein
Schläfer, der im Alptraum eine unsichtbare Tür sucht.
    Schließlich ließ er das ganze Zeug
liegen und ging nur mit einem kleinen Päckchen Vorräte weiter – Düne nach Düne
überquerte er, immer in Richtung des Dschungels. Von fern her lockten die alles
überragenden, riesigen Farnbäume.
     
    Am Rande des Waldes ruhte er sich
unter einem Baum aus und reinigte dabei seine Pistole. Zum erstenmal hörte er
wieder das
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