Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Karma-Attacke (German Edition)

Karma-Attacke (German Edition)

Titel: Karma-Attacke (German Edition)
Autoren: Klaus-Peter Wolf
Vom Netzwerk:
Wesen. Er registrierte lediglich ihr Tun, als sei das Ganze ein wissenschaftlicher Versuch. Eine interessante Testreihe: Was machen die Hände von Professor Ullrich, wenn er sie einfach sich selbst überlässt?
    Seine Fingerkuppen kamen ihm empfindlicher vor als seine Lippen. Sein Tastsinn war so ausgeprägt, als habe er ewig lange in völliger Dunkelheit und Stille verbracht. Ganz auf Berührung angewiesen, um die Welt zu erfahren. Wie andere Zigaretten oder Lutschbonbons bei sich tragen, hatte er immer Knetgummi in der rechten Westentasche. Wenn er nichts knetete, hatte er etwas anderes zwischen den Fingern. Kronkorken. Büroklammern. Bleistifte. Papierkügelchen. Mit irgendetwas musste er immer spielen. Es war kein nervöses Herumfingern. Mehr ein meditativer Akt. Als könnte er Ruhe und Kraft aus den Dingen saugen. Als würde er sich mehr durch seine Fingerkuppen ernähren als durch Mund und Speiseröhre.
    Seine Fingernägel waren stets gepflegt. Er reinigte sie mehrmals am Tag mit einer speziellen, nicht zu harten Nagelbürste unter klarem Wasser und feilte sie in eine ovale, fast spitz zulaufende Form. Bei dem Gedanken, eine Nagelschere zu verwenden, schauderte er. Er konnte auch anderen Menschen nicht dabei zusehen. Es war für ihn, als würden Gliedmaße abgeschnitten.
    In seinem Arbeitszimmer hingen Vergrößerungen seiner Fingerabdrücke in Schwarz, Blau und Rot an der Wand. Als hätte Andy Warhol sich nicht mit dem Gesicht von Marilyn befasst, sondern mit den Daumenabdrücken von Professor Ullrich. Sie waren fußballgroß. Es hatte etwas von Kunst und zugleich etwas von einer Fahndungsakte an sich. Er drehte seinen Ledersessel und betrachtete die zerklüfteten Landschaften. Wie ausgetrocknete Flussbetten, verschlungen und labyrinthisch. So ähnlich stellte er sich Thara vor. Den Ort, von dem Vivien kam und über den sie mehr wusste als irgendein anderes Lebewesen im Jetzt.
    Langsam griff er nach der Fernbedienung und schaltete den Monitor ein. Da war sie: Vivien. Endlich schrieb sie wieder. Ihr Körper krümmte sich über das Papier, als müsse sie die Sätze aus sich herauspressen. Auf dem Bildschirm glich sie auf fatale Weise in Größe und Form den tönernen Figuren. Sie sah genauso gequält aus, nur hielt ihre Haut sie noch zusammen. Das Innere platzte nicht einfach aus ihr heraus.
    Sie atmete schwer. Wenn sie über Thara redete oder schrieb, wurde sie oft asthmatisch. Dann durchzogen rote Äderchen das Weiße in ihren Augen. Ihr Blutdruck stieg auf 180 zu 220, der Puls raste. Professor Ullrich hatte ihn oft gemessen. Besonders nachts, um sie wecken zu können, wenn sie wieder in Thara war. Doch meist war sie dann verwirrt und ängstlich, und ihre Berichte gaben nicht viel her. Inzwischen verzichtete er ganz auf solche Messungen. Was sagten sie schon aus? Körperreaktionen, mehr nicht.
    Er switchte auf Bildausschnitt. Am liebsten würde er direkt mitlesen, was sie schrieb, aber ihre vorgebeugte Schulter verbarg den Text. Ihre Haare glänzten kupferfarben, reflektierten das zu helle Neonlicht. Vivien veränderte ihre Haarfarbe alle paar Tage, so als suche sie noch nach der richtigen. Mit Tönungen oder Henna konnte er ihr immer eine Freude machen. Er hatte sie schon mit grünen, blauen und blonden Haaren gesehen, aber Rot war ihre absolute Lieblingsfarbe. Sie probierte eine Schattierung nach der anderen aus.
    Die Sprechanlage auf seinem Schreibtisch knisterte und piepste. Frau Dr.Sabrina Schumann wollte ihn sprechen, dringend. Er grollte. Alles war immer dringend. Wahrscheinlich wollte nur irgendein Krankenhausfuzzi die Belegdaten diskutieren. Wie sehr er diese Typen mit ihrem Halbwissen und ihrer Macht hasste! Statt sich seinen Patienten zu widmen, musste er mit diesen Trotteln Smalltalk halten, damit die Mittel nicht gekürzt wurden. Wie viele Stunden seines Lebens hatte er damit verbracht? Würden die auch nur erahnen, welch bedeutende Forschungen sie mit ihrem Geschwätz unterbrachen, sie würden sich vor Angst und Scham die Pulsadern öffnen.
    Das alles sagte er natürlich nicht. Er hatte sich im Griff, war freundlich wie immer. Doch Sabrina Schumann erkannte seinen Unmut. Sie hatte gelernt, bei ihm auf die Zwischentöne zu lauschen.
    «Bitte», sagte sie, «hier ist Vivien Schneiders Vater. Er will sie …»
    Professor Ullrich reagierte, als habe die Sintflut die Wände seines Büros eingedrückt. Er sprang zum Fenster, riss es auf und wählte den kürzesten Weg zum Verwaltungsgebäude. Quer
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher