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Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition)
Autoren: John Lanchaster
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bauten Speicher um, reparierten Küchen, durchbrachen Wände oder fügten welche hinzu, und immer stand ein Container oder ein Baugerüst vor einem der Häuser. Der Trend, das Fundament auszuheben und Küchen, Spielzimmer oder andere Räume dort unterzubringen, führte zu endlosen Förderbändern voller Erde, die in die bereitgestellten Container geschüttet wurde. Weil das Erdreich von dem Gewicht des darüberstehenden Hauses zusammengepresst worden war, dehnte es sich, einmal an der Oberfläche, auf ein fünf- oder sechsmal so großes Volumen aus. Dadurch gewann dieses Gegrabe etwas Bizarres, Düsteres, als würde die Erde anschwellen, sich übergeben, sich ihrem eigenen Aushub widersetzen. Viel zu viel Boden schien aus dem Untergrund zu kommen, so als sei es gänzlich unnatürlich, sich so tief ins Erdreich zu wühlen, um sich noch mehr Platz zu verschaffen. Als könnte man bis in alle Ewigkeit weitergraben.
    Wenn man ein Haus in der Pepys Road besaß, dann war das so,als befände man sich in einem Spielkasino mit Gewinngarantie. Wohnte man bereits dort, war man reich. Wollte man dort hinziehen, musste man reich sein. Es war das erste Mal in der Geschichte, dass dies der Fall war. Großbritannien war zu einem Land von Gewinnern und Verlierern geworden, und alle Menschen in dieser Straße hatten allein durch die Tatsache, dass sie dort wohnten, gewonnen. Der junge Mann, der an diesem Sommermorgen in die Gegend gekommen war, filmte eine Straße von Gewinnern.

ERSTER TEIL
Dezember 2007

1
    An einem regnerischen Tag Anfang Dezember saß eine zweiundachtzigjährige Frau in ihrem Wohnzimmer in der Pepys Road Nummer 42 und schaute durch ihre Spitzenvorhänge auf die Straße hinaus. Ihr Name war Petunia Howe, und sie wartete auf den Lieferwagen von Tesco.
    Petunia war der älteste Mensch, der in der Pepys Road lebte, und sie war auch der letzte Mensch, der in der Straße geboren worden war und jetzt noch immer dort wohnte. Aber ihre Verbindung mit diesem Ort ging viel weiter zurück. Ihr Großvater hatte das Haus sozusagen vom Reißbrett weg gekauft, noch bevor es gebaut worden war. Er hatte als Rechtsanwaltsgehilfe in einer Kanzlei in Lincoln’s Inn gearbeitet und war privat wie politisch sehr konservativ gewesen. Und wie bei Rechtsanwaltsgehilfen so üblich, hatte er seinen Beruf an seinen Sohn vererbt, und als der nur Töchter bekam, weiter an den Mann einer seiner Enkelinnen. Und das war Petunias Mann gewesen, der vor fünf Jahren gestorben war.
    Petunia sah sich selbst nicht gerade als jemanden, der ein besonders aufregendes Leben geführt hatte. Sie war eher der Ansicht, dass es ziemlich übersichtlich und belanglos gewesen war. Immerhin hatte sie zwei Drittel der gesamten Geschichte der Pepys Road miterlebt und eine ganze Menge dabei gesehen. Sie hatte mehr bemerkt, als sie je zugeben würde, und hatte versucht, so wenig wie möglich über die Dinge zu urteilen. Sie fand, dass Albert genug Urteile für sie beide zusammen gefällt hatte. Die einzige Lücke in ihrem Leben in der Pepys Road war entstanden, als sie Anfang des Zweiten Weltkriegs evakuiert worden war und von 1940 bis 1942 auf einem Bauernhof in Suffolk leben musste. So hatte man verhindern wollen, dass sie der Bombardierung ausgesetzt war. Das war eine Zeit, an die sie auch heutenoch lieber nicht dachte, nicht etwa weil jemand grausam zu ihr gewesen wäre – der Bauer und seine Frau waren so freundlich gewesen wie möglich und wie es ihnen die ununterbrochene schwere körperliche Arbeit, aus der ihr Leben bestand, erlaubt hatte –, sondern einfach, weil sie ihre Eltern vermisste und sich nach dem behaglichen und vertrauten Familienleben sehnte, wenn der Vater von der Arbeit nach Hause kam und pünktlich um sechs der Tee serviert wurde. Die Ironie der Geschichte war, dass sie die Bombardierung dann doch mitbekam. Es war 1944, um vier Uhr morgens, als eine V2-Rakete gerade mal zehn Häuser weiter einschlug. Petunia konnte sich noch gut daran erinnern, dass die Explosion weniger ein Geräusch als vielmehr eine körperliche Empfindung gewesen war. Sie wurde mit unwiderstehlicher Kraft aus dem Bett gestoßen, so als hätte ein neben ihr liegender Liebhaber sie nicht mehr darin dulden mögen, ohne ihr aber Übles zu wollen. Zehn Menschen starben in dieser Nacht. Das Begräbnis, das in der großen Kirche am Park abgehalten wurde, war ganz fürchterlich. Begräbnisse sollten eigentlich besser an regnerischen Tagen stattfinden, wenn man den Himmel nicht sehen
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