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Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition)
Autoren: John Lanchaster
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aufgetaucht, dann wäre Roger zwar überrascht gewesen, aber nicht allzu überrascht. Doch hätte es ihn eindeutig erstaunt, wenn er gewusst hätte, was Mark tatsächlich über ihn dachte und was für ein starkes und persönliches Interesse sein Stellvertreter an seinem Privatleben hatte – wo Roger wohnte, wo er zur Schule gegangen war, wie seine Kinder hießen und wann sie Geburtstag hatten, wofür seine Frau Geld ausgab und wie er seine Freizeit verbrachte. Hätte Roger das gewusst, hätte ihn das vollkommen aus der Fassung gebracht, aber er hatte davon keine Ahnung, und deshalb war das auch nicht der Grund, warum Mark Roger verunsicherte.
    Es lag vielmehr daran, dass Roger zu einer Zeit zu Pinker Lloyd gekommen war, als es im Finanzgeschäft noch mehr um persönliche Beziehungen und weniger um Mathematik ging. Er war in den vergangenen Jahrzehnten erfolgreich gewesen und vorangekommen, doch es ließ sich nicht mehr leugnen, dass er mit den grundlegenden Veränderungen, die im Wesen seiner Arbeit vor sich gegangen waren, nicht in jeder Hinsicht Schritt gehalten hatte. Der Devisenhandel basierte auf der Handhabung unendlich komplizierter mathematischer Formeln, die der Bank subtile und lukrative Positionierungsstrategien erlaubten. Im Klartext bedeutete dies, dass die Bank Wetten auf beiden Seiten eines Handelsgeschäfts gleichzeitig abschließen konnte. Solange nicht etwas vollkommen Unvorhergesehenes geschah – etwas außerhalb der Parameter und Prognosen, die in die Wetten eingebaut waren – und solange die Algorithmen stimmten, hatte man eine absolute Gewinngarantie. Es gehörte zu den Gesetzen der Branche, dass man kein Geld verdienen konnte, ohne Risiken einzugehen, aber dank der Wunder der modernen Finanzinstrumente konnte man dieses Risiko fast gänzlich ausschalten. Und natürlich tat die Bankalles nur irgend Mögliche, um sich selbst zu helfen. Ein Teil des Handels war algorithmisch, was hieß, dass seine Basis rein mathematischer Natur war und er so konfiguriert wurde, dass er von der Eigendynamik der Preisentwicklung profitierte: Wenn die Preise sich in eine bestimmte Richtung bewegten, dann war es mehr als wahrscheinlich, dass sie am nächsten Tag dasselbe tun würden. Also benutzten manche der Händler in der Abteilung eine Software, mit Hilfe derer man aus genau diesem Phänomen Profit schlagen konnte. Ein Teil der Handelsgeschäfte bestand aus dem sogenannten Flash Trading, bei dem man seinen Profit aus dem Bruchteil einer Sekunde schlug, der zwischen dem Plazieren eines Gebots an den Märkten und der tatsächlichen Auftragsausführung lag. Wieder ein anderer Teil des Handels zog seine Informationen aus Datenbanken, in denen gespeichert war, was Kunden in der Vergangenheit bezahlt hatten, und benutzte diese Daten, um in Echtzeit vorherzusagen, was sie in der Gegenwart bezahlen würden, damit die Bank ein Preisangebot machen konnte, das der Kunde akzeptieren würde, das aber gleichzeitig einen Gewinn für Pinker Lloyd garantierte. All das war schön und gut, und Roger konnte das Ganze im Wesentlichen sehr wohl nachvollziehen – aber das war nicht dasselbe wie die mathematischen Prinzipien selbst zu verstehen. Das ging mittlerweile weit über seine Fähigkeiten hinaus. Mark hingegen verstand diese Prinzipien. Er hatte seine Promotion in Mathematik abgebrochen, um für Pinker Lloyd zu arbeiten. Roger war nicht gerade begeistert davon, dass er einen nicht mehr ganz so sicheren Stand hatte und dass er nicht mehr in der Lage war, bis ins kleinste Detail hinein zu erklären, was genau bei den Handelsgeschäften vor sich ging, für die seine Abteilung zuständig war. Aber andererseits war auch sonst kaum jemand dazu in der Lage. Das lag einfach in der Natur der Arbeit, die derzeit am Finanzmarkt üblich war.
    »Kann ich noch einen weiteren Punkt ansprechen?«, fragte Mark, während er den ersten Stapel mit Zahlenmaterial, den er mitgebracht hatte, auf den Tisch legte und eine weitere Akte in dieHand nahm. »Ich habe hier noch ein paar Vorschläge für diese Sache mit der neuen Software. Ich dachte, Sie wollten sich das vielleicht mal anschauen?«
    Mark hob zum Ende seines Satzes hin die Stimme, wodurch das, was er sagte, fast zur Frage wurde, aber eben nicht ganz. Er hielt die Akte so in die Höhe, dass der dritte Mann im Raum Gelegenheit hatte, einen Blick darauf zu werfen, falls er das wollte. Dieser Mann war Rogers höchster Vorgesetzter, Lothar Billinghoffer. Lothar war fünfundvierzig Jahre alt und
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