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Kaltes Grab

Titel: Kaltes Grab
Autoren: Stephen Booth
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frustrierter Urlauber, Zugreisenden, die missmutig auf Anzeigetafeln blickten, und Schneepflügen in Schottland, die den Schnee vier Meter hoch neben einer Landstraße auftürmten.
    »Wo ist Dad?«, fragte Peter.
    »Er sitzt wieder über seinen Fotos«, antwortete sie.
    »Es war eine anstrengende Nacht, Grace. Wir haben zwei junge Männer reinbekommen, die jemand mit Baseball-Schlägern entsetzlich zugerichtet hatte.«
    »Wie schrecklich.«
    Sie saßen eine Weile schweigend da. An der Kopfhaltung ihres Mannes erkannte Grace, dass er den Nachrichten ebenso wenig folgte wie sie. Sie kannte die Macht der Stille und wartete, atmete so leise, bis sie das Knacken der Heizkörper und das Brummen eines Automotors auf der Straße hören konnte. Aus der gegenüberliegenden Zimmerecke, wo der blaugrüne Papagei saß, drang leises Federrascheln. Vielleicht spürte das Tier die Spannung im Raum. Der Vogel richtete eines seiner schwarzen Augen auf sie, ehe er mit einer abrupten, zornigen Schnabelbewegung nach den Gitterstäben seines Käfigs hackte.
    »Wenn du es unbedingt wissen willst«, sagte Peter, »ich glaube, er ist wieder zurückgefahren.«
    Grace spürte, wie sich ihre Schultern versteiften. »Wohin denn zurück?«, fragte sie, obwohl sie ganz genau wusste, was Peter damit meinte.
    »Was glaubst du denn? Nach London.«
    »Zu ihr?«
    »Ja. Zu seiner Frau. Sie hat übrigens einen Namen.«
    »Andrew hat gesagt, sie ist in Amerika, auf der Beerdigung eines Cousins.« Grace schlug sich mit der flachen Hand aufs Knie, als hätte es sie durch seine Untätigkeit beleidigt. »Ich habe noch mal bei ihm angerufen, Peter. Er geht nicht ran.«
    »Wir müssen eben warten, bis er sich von sich aus wieder meldet, Grace. Was bleibt uns anderes übrig?«
    Grace schob sich neben einen Sessel und spürte, wie die Räder in die ausgefahrenen Rillen im Teppich glitten. Peter rührte keinen Finger, um ihr zu helfen, er schaute nicht einmal herüber, um herauszufinden, ob sie zurechtkam. Inzwischen war sie froh, dass er es nicht mehr tat. Früher hatte sie seine Schwerfälligkeit oft in Rage gebracht, und sie hatte ihn grob weggestoßen. Er hatte nichts gesagt, aber sie wusste, dass ihn ihre Grobheit schockierte und kränkte. Auch wenn ihre Beine nichts mehr taugten – ihre Hände und Handgelenke waren kräftig .
    »Das ist doch unlogisch«, sagte sie. »Warum sollte er plötzlich wie aus dem Nichts auftauchen und dann ebenso rasch und ohne ein Wort wieder verschwinden?«
    »Es gibt haufenweise Dinge in seinem Leben, von denen uns Andrew nichts erzählt hat.«
    »An einem Tag? Dazu war nicht genug Zeit. Ein Tag ist zu kurz, um fünf Jahre nachzuholen.«
    »Grace! Er führt jetzt sein eigenes Leben. Du kannst nicht bis in alle Ewigkeit über der Vergangenheit brüten.«
    Diese Worte hatte sie schon zu oft gehört. Es war zu Peters Mantra geworden, das er immer wieder aufsagte, als könnte es wahr werden, wenn er es nur oft genug wiederholte. Grace wusste, dass es nicht stimmte. Wenn man weder eine Gegenwart noch eine Zukunft hatte, wo sollte man dann schon leben, wenn nicht in der Vergangenheit?
    »Aber er ist unser Sohn«, sagte sie. »Mein kleiner Junge.«
    »Ich weiß, ich weiß.«
    Grace spürte, dass sie jetzt zu ihm durchdrang. Sie senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Mein lieber Pjotr …«
    Doch sie hörte Peter seufzen und sah, wie er an der Fernbedienung herumfummelte. Auf dem anderen Kanal lief der Wetterbericht. Eine attraktive junge Frau stand vor einer Karte voller wattiger Wölkchen, die kleine weiße Krümel über ganz Nordengland verstreuten. Gleich würde sie in die Küche rollen und Peter eine Kanne Tee kochen müssen, sonst war sein gewohnter Ablauf gestört, und er würde den Rest des Tages schmollen.
    »Da kommt noch jede Menge Schnee nach«, bemerkte er.
    Die Gelegenheit war vorüber. Grace hob die Hände ans Gesicht und schnupperte an dem dünnen Ölfilm auf ihren Fingern. Das Öl und die dunklen Flecken auf ihren Händen erinnerten sie ständig an ihre Abhängigkeit von Maschinen, an ihren unfreiwilligen Rückzug vom Rest der Menschheit. Sie glaubte fest daran, dass man seine Benachteiligung in etwas Positives verwandeln konnte. Aber manchmal war es einfach schwer zu finden.
    »Na, wunderbar«, sagte sie. »Das hat uns gerade noch gefehlt. Noch mehr Schnee. Noch mehr Ausreden, wieso sie ihn nicht finden. Dann behaupten sie wieder, sie sind zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt. Und am Schluss heißt es, jetzt ist es
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