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Kalter Weihrauch - Roman

Kalter Weihrauch - Roman

Titel: Kalter Weihrauch - Roman
Autoren: Gmeiner-Verlag
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hallten auf dem Fliesenboden. Sie betraten einen kleinen Raum, dessen einziges Fenster vergittert war. Ein abgenutztes Sofa stand an der Wand, ein Holzsessel gegenüber. Auf einem Tischchen lagen Broschüren offenbar frommer Art. Es roch nach Kräutertee.
    »Bitte«, sagte die Frau erneut und wies auf das Sofa. Sie setzten sich der Frau gegenüber.
    »Es tut uns leid, dass wir Sie zu so später Stunde noch stören müssen«, sagte der Chef neuerlich. Manches Mal war seine unerschütterliche Geduld einfach unerträglich, Leo wagte sich das kaum einzugestehen. Er jedenfalls hätte ganz bestimmt einen anderen Ton angeschlagen in diesem Kammerl, das aussah wie ein Verhörzimmer in der Ukraine. Und ein Männerklo gab es 100-prozentig auch nicht in diesem Kasten. Leo fühlte das Unheil nahen.
    »Wir haben gerade zur Nacht gebetet«, sagte die Frau. Ihr Alter war schwer einzuschätzen, irgendwo in diesem Niemandsland zwischen 50 und 100. Man bekam ja auch nur ihr Gesicht zu sehen und ihre Hände, alles andere war unter Bahnen von Stoff begraben. Bestimmt trug sie darunter drei Lagen warme Wäsche. Und trockene Socken.
    »In einem Wald unten am See, gleich beim Weihnachtsmarkt, wurde die Leiche einer jungen Frau gefunden«, sagte Pestallozzi. »Über die Todesursache wissen wir noch nichts, es hat jedenfalls keine sichtbare Gewaltanwendung stattgefunden. Die junge Frau trug ein bodenlanges weißes Kleid, das dem Ihren sehr ähnlich ist, und eine Art Kopftuch. Könnte es sein, dass sie aus diesem Kloster gekommen ist? Vermissen Sie eine der Schwestern? Oder vielleicht eine Novizin?«
    Die Frau, die eine Schwester ›Supirior‹ oder so ähnlich war, wirkte vollkommen gefasst. Sie sah auf das Kruzifix, das der einzige Schmuck in diesem Zimmer war, dann sah sie wieder den Chef an.
    »Unsere Postulantin Agota hat das Kloster gestern Abend offenbar verlassen. Wir haben ihre Abwesenheit erst heute früh beim Morgengebet entdeckt.«
    »Eine Postulantin ist …?«
    »Das Vorstadium bis zur Aufnahme als Novizin. Beide Seiten sollen die Möglichkeit haben, sich zu prüfen. In unserer Gemeinschaft dauert es mindestens fünf Jahre, bis wir die endgültigen Gelübde der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams ablegen.«
    »Kommt es öfter vor, dass eine Schwester oder eine Postulantin das Haus verlässt?«
    »Man muss normalerweise um Erlaubnis ansuchen.«
    »Aber kann man einfach so gehen? Ich meine, ist das Tor versperrt?«
    »Doch, selbstverständlich gelangt man nach draußen, wenn man es möchte. Wir sind ein Kloster und kein Gefängnis.«
    »Ah ja.« Pestallozzi dachte nach, die Frau sah ihm dabei zu.
    »Und haben Sie daran gedacht, irgendwo nachzufragen? Eine Abgängigkeitsanzeige zu erstatten? Waren Sie denn nicht beunruhigt?«
    Ein Hauch von Unbehagen wurde auf dem Gesicht der Frau sichtbar. »Natürlich haben wir uns Sorgen gemacht. Aber wir wollten die Angelegenheit innerhalb unserer Gemeinschaft regeln.«
    »Natürlich. Wie so vieles, was innerhalb der Kirche geregelt wird.«
    Leo starrte den Chef an, so einen sarkastischen Tonfall hatte er noch nie von ihm gehört. Die Tante in Weiß sah auch ganz schön schmallippig drein.
    »Was können Sie uns über diese Agota sagen?«, fuhr der Chef in betont neutralem Ton fort. »Wir wissen natürlich noch nicht mit Gewissheit, ob es sich bei der Toten um dieselbe Person handelt.«
    Die Superior wirkte endlich betroffen. »Sie ist erst im vergangenen Jahr in unser Haus gekommen, aus Ungarn. Unser Orden organisiert dort Hilfsprojekte für junge Frauen aus … hauptsächlich aus Romafamilien.«
    Frieda Kahlo, dachte Pestallozzi. Ein Gesicht wie die Madonnen auf alten Ikonen. Das war also des Rätsels Lösung. Die junge Frau war eine Roma gewesen. Oder eine Zigeunerin, wie man sie früher genannt hatte. In den Wirtshäusern gab es noch immer Zigeunerschnitzel mit viel Paprika auf den meisten Speisekarten. Aber wie bist du bloß auf einen Weihnachtsmarkt im Salzkammergut geraten? Tot im Schnee? Er wollte sich nicht vorstellen, wie fremd sich diese Agota gefühlt haben musste.
    »Ist Agota ihr richtiger Vorname?«
    Die Frau nickte. »Den Namen, den wir als Schwester tragen, wählen wir in unserem Orden erst bei der Einkleidung, bei der endgültigen Weihe.«
    »Und ihr Familienname lautet?«
    »Da müsste ich die Akten einsehen, die Schwester Teresa verwahrt. Sie ist leider krank, eine schwere Grippe, ich würde sie jetzt nur ungern stören.«
    Pestallozzi nickte wieder sehr bedächtig.
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