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Kalte Stille - Kalte Stille

Titel: Kalte Stille - Kalte Stille
Autoren: Wulf Dorn
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wie du es dir angesehen hast. Es war, glaube ich, der gute alte Cicero, der einmal gesagt hat, es sei die sorgenfreie Erinnerung an vergangenen Schmerz, die uns Frieden bringt.«
    Jan sah noch einmal zum Haus, dann zuckte er mit den Schultern. »Der hatte leicht reden. Er musste ja nicht darin leben.«
    Marenburg grinste. »Na komm, jetzt bringen wir erst mal deine Sachen rein, und dann musst du mir alle Neuigkeiten erzählen. Bis ins kleinste Detail.«
    Das Gefühl, in die Zukunft gereist zu sein, verflüchtigte sich schlagartig, als Jan das Haus betrat. Hier herrschte noch immer der Einrichtungsstil von einst. Im
Flur empfingen ihn eine wuchtige Garderobe aus Kirschbaumholz, daneben ein gerahmtes Bild, das einen röhrenden Hirsch vor einem Bergsee zeigte, und zu allem Überfluss bewachte eine hölzerne Nachtwächterstatue mit Laterne das Telefonkästchen, auf dem ein uralter Wählscheibenapparat mit samtigem Schonbezug stand.
    Jan folgte Marenburg über die teppichbezogenen Stiegen in den ersten Stock, wo Marenburg ein Zimmer für ihn vorbereitet hatte. Als Jan sah, in wessen Raum er in den nächsten Wochen wohnen sollte, beschlich ihn ein beklemmendes Gefühl. Zwar deuteten nur noch ein Regal voller Kinder- und Jugendbücher und ein Poster an der Wand auf die ehemalige Bewohnerin hin, aber für einen kurzen Moment hatte Jan den Eindruck, als sei Alexandras Geist noch immer anwesend.
    »Ich hoffe, das stört dich nicht.«
    Marenburg deutete auf das Poster über dem Bett. Es zeigte einen jungen David Bowie, dem ein roter Blitz übers Gesicht gemalt war. Darunter standen die Worte Aladdin sane, und Jan fiel das darin verborgene Wortspiel auf: A lad insane, ein verrückter Kerl.
    Marenburg machte eine hilflose Geste. »Weißt du, sie war ganz vernarrt in diesen Kerl. Irgendwie habe ich es nicht übers Herz gebracht, es abzuhängen. Na ja, ich beziehe auch jede Woche ihr Bett neu, obwohl du seit vielen Jahren der Erste bist, der darin schläft. Ihr Psychiater habt bestimmt eine Erklärung für so etwas, oder?«
    »Dazu muss man kein Psychiater sein, Rudi«, sagte Jan und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Nicht, wenn es um Liebe geht.«
    Marenburg wich Jans Blick aus und ging zur Tür. »Schön, dich hierzuhaben, Junge. Jetzt komm erst einmal in Ruhe an, und dann feiern wir deine neue Stelle
mit einem leckeren Essen. Ich hoffe, du magst noch gute alte Hausmannskost?«
    »Na klar.«
    Marenburg verschwand auf dem Gang, und gleich darauf knarrten die Treppenstufen, als er sich auf den Weg zur Küche machte. Jan seufzte und nahm sich vor, gleich morgen mit der Wohnungssuche zu beginnen. So gern er Rudi mochte, war dies hier wirklich nur eine Übergangslösung und keinesfalls der richtige Ort für einen Neuanfang.
    Er besah sich noch einmal den verrückten Kerl auf dem Poster, den Alexandra so vergöttert hatte, und trat dann ans Fenster. Es war ein seltsames Gefühl, aus diesem Fenster auf sein Elternhaus zu blicken.
    Vor mehr als dreiundzwanzig Jahren hatte er häufig und lange von seinem Zimmer aus zu diesem Fenster hinübergesehen. Vor allem abends, wenn in dem Zimmer, in dem er nun stand, Licht gebrannt hatte und der Rollladen noch nicht heruntergelassen war. Dann hatte er Alexandra Marenburg beobachtet, die sechs Jahre älter als er gewesen war. Er hatte ihr zugesehen, wie sie an ihrem Tisch gesessen und gelesen oder gezeichnet hatte. Manchmal hatte sie dabei Kopfhörer auf und starrte mit entrücktem Blick zur Decke. Damals hatte er gerätselt, was sie sich anhörte, welche Art von Musik sie mochte. Jetzt stellte er sich vor, wie sie sich von David Bowie in die Welt des verrückten Kerls hatte entführen lassen - eine Welt, in der Verrückte wie sie etwas ganz Normales waren.
    Jans Vater hatte den Ausdruck verrückt nicht gemocht, für ihn waren diese Menschen psychisch krank gewesen. Er hatte Alexandra mehrmals behandelt, das hatte Jan gewusst. Doch für Jan war sie weder verrückt noch psychisch krank gewesen. Für ihn war sie eine hübsche
junge Frau gewesen, mit langen dunklen Haaren, traurigen Augen und einer geheimnisvollen Aura.
    Die Faszination, die er für sie empfunden hatte, ließe sich heute wahrscheinlich als eine Art frühpubertärer Schwärmerei erklären. Er war nicht verliebt oder - wie man als Teenager sagte - verknallt in sie gewesen, vielmehr hatten ihn ihre unnahbare, fast schon mysteriöse Ausstrahlung und die Anmut ihrer scheuen Bewegungen in ihren Bann gezogen, wenn er sie heimlich durchs
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