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Kalt, kaltes Herz

Kalt, kaltes Herz

Titel: Kalt, kaltes Herz
Autoren: Keith Ablow
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»Fühlen Sie sich wirklich wohl in Ihrer Haut, wenn Sie Richter und Geschworene spielen?«
    Ich überlegte. »Warum nicht?« antwortete ich. »Richter und Geschworene haben ja offenbar auch kein Problem damit.« Wir verabreichten Kathy genügend Beruhigungsmittel, um sie bis zum nächsten Morgen schachmatt zu setzen. Ich schlief neben ihr in einem gewaltigen Himmelbett in einem von Hollanders Gästezimmern. Als ich eindöste, lag ich starr auf dem Rücken, so nah an der Bettkante, wie es nur irgend ging, ohne herunterzufallen. Doch als ich bei Morgengrauen kurz nach sechs aufwachte, war ich seitlich an sie gekuschelt. Einen Augenblick vergaß ich, wo wir uns befanden und was geschehen war. Aber als ich ihre Hand berührte, erinnerten mich die Lederfesseln wieder daran. Und dennoch blieb ich an sie geschmiegt liegen. Ich fühlte mich ruhig, eher traurig als von Grauen erfüllt, und empfand ebensoviel Mitleid wie Zorn. Ich schnupperte sogar verstohlen an ihrem Nacken.
    Sie drehte sich zu mir um. »Wo sind wir ?« fragte sie.
    »An einem sicheren Ort.«
    Sie schloß die Augen und sank wieder aufs Kissen.
    »Tut mir leid, daß ich dich nicht früher in Sicherheit bringen konnte«, flüsterte ich.
    Hollander weckte mich, damit ich mich aus dem Staub machen konnte, bevor seine Pfleger Kathy holen kamen. Wir verabredeten, daß ich mich mindestens einen Monat lang nicht bei ihm melden würde.
    Ich fuhr heim, blieb aber im Auto sitzen, weil ich es nicht schaffte, das Haus zu betreten. Ich sehnte mich nach einem Ort, an dem ich Rachel nah sein konnte.
    Also machte ich mich auf den Weg nach Revere, bog in den Parkplatz des Lynx Club ein und betrat das Lokal. Im Lynx Club ist es tagsüber dunkler als nachts. Die Lichter am Laufsteg sind abgeschaltet. Die Musik dudelt nur aus zwei Lautsprechern, nicht aus zehn. Die Mädchen sind ein wenig älter und nicht so hübsch, und die Drinks sind stärker. Ich ging an zwei Männern im Anzug vorbei, die das Frühstück im Sonderangebot herunterschlangen, und setzte mich in eine Ecke. Elton Johns »Candle in the Wind« spielte, und eine Brünette im Ledergeschirr kam auf die Bühne. Als die Kellnerin erschien, bestellte ich einen Screwdriver, aber ich nahm nur einen kleinen Schluck. Ein verkrüppelter Rollstuhlfahrer war der einzige Gast in der Spannerecke. Als die Stripperin zu tanzen begann, zog er seine Brieftasche heraus und wedelte ihr mit einem Dollarschein zu. Sie hob ihr langes, schlankes Bein, streckte die Zehen wie eine Ballerina und schob das Stoffdreieck zwischen ihren Beinen weg. Mit einem Seufzen lächelte er mir zu. Ich lächelte zurück.
    Wir alle sind verkrüppelt und verkorkst. Die meisten von uns bemühen sich verzweifelt, ihre Behinderungen zu verbergen und nicht daran zu denken. Durch einen alchimistischen Prozeß verwandelt unsere Seele unser Leid dann in Süchte, Magengeschwüre, Schlaganfälle, Haß oder sogar Krieg. Doch es gibt einige wenige Menschen, die man eigentlich als Engel bezeichnen könnte. Sie treten überraschend in unser Leben, und mit ihrer Hilfe lernen wir, nicht mehr vor uns selbst zu fliehen. Und als ich allein und voller Schmerz im Lynx Club saß, wußte ich, daß ich das Glück gehabt hatte, einem solchen Menschen zu begegnen.
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