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Käptn Snieders groß in Fahrt

Käptn Snieders groß in Fahrt

Titel: Käptn Snieders groß in Fahrt
Autoren: Werner Schrader
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trank zwei Tassen wie jeden Tag und machte sich dann über die Aufsätze. Weil die Herbstsonne so einladend schien, nahm er sie mit zu seiner Bank auf dem Deich hinaus. Einen Bleistift hatte er sich eingesteckt, um die Einsen und die Sechsen schreiben zu können.
    Er blätterte in den Heften und staunte, wie lang die Aufsätze waren. Den von Lutz Lehmann begann er als ersten zu lesen. Er hatte den folgenden erstaunlichen Wortlaut:
    „Über die ursächlichen Zusammenhänge bei den Gezeiten. (Das war die Überschrift!) Unser neuer Lehrer ist ein alterfahrener Weltumsegler, der auf seinen endlos langen Reisen ganz unglaubwürdige Abenteuer erlebt hat, die man heutzutage mit der Lupe suchen muß. Wir genossen heute das Glück seiner erzählten Bekanntschaft mit dem Gezeitenuntier.
    Vor vielen Zigjahren, der alte Kapitän war ein blutjunger Bootsmann, und seine Erinnerung verschweigt das genaue Datum mangels Altersschwäche, gerieten er und die gesamte Besatzung seiner schnellen Frachtbark auf ihrer Fahrt über den Atlantik in den Sog des obengenannten Tieres. Der war so stark, daß eine Rettung ganz aus dem Rahmen und buchstäblich ins Wasser fiel. Also ergaben sich Kapitän und Mannschaft in das unmißverständliche Schicksal, den sicheren Tod vor Augen, der ob der fetten Beute gierig grinste. Das Tier, wie ich bisher zu erwähnen vergaß, ist ein Säufer, wie er im Buche steht. Dabei liegt es platt auf dem Bauch, wobei es die oberen Körperteile wie Nase und Augen weit über Normalnull ragen läßt. Wenn immer es auf die beschriebene Art schlürft, und das tut es behaglich alle sechs Stunden, beeilt sich das Wasser in der Weser und in der Nordsee, in seinen Rachen zu kommen. Ohne Scheu vor dem langen Anmarschweg! Es liegt darum klar auf der Hand, daß das uns entwichene Wasser die Ebbe hervorruft. Aber bald schon ist das Tier voll der süßen Labe und spuckt uns das nicht verwendete Wasser als Flut zurück. So hat alles seinen Sinn und Zweck und ist nicht gedankenlos so klug eingerichtet. Käpten Snieders jedenfalls weiß ein Lied davon zu singen, daß mit dem Tier nicht gut Kirschen essen ist. Zum Glück wandte sich das grausige Schicksal noch einmal um, in Form von zwei Sack Niespulver, die es mit der Idee des nichtsnutzigen Schiffsjungen, dem Auge des kühnen Steuermannes und der ruhigen Hand des alles überschauenden Kapitäns dem Untier in die geblähte Nase feuerte, mittels Bedienung der Bordkanone. So sieht jeder ein, daß Ebbe und Flut nötig sind, wenn auch gefährlich, sobald man der Ursache zu nahe kommt.
    Daß Käpten Snieders uns erhalten blieb, ist aller Ehren wert und hoch zu loben; denn hätte er bei der erwähnten Gelegenheit den nassen Tod gefunden, müßten wir jetzt mit dem Unterricht bei seinem mutmaßlichen Sohn vorliebnehmen, und wie der geworden wäre, weiß man nicht, denn er hatte seinerzeit noch nicht das Glück, geboren zu sein.“
    Käpten Snieders nahm die Augen von dem letzten Satz und blickte über den Nebenarm der Weser, der hoch aufgelaufen war.
    Die Jugend ist aber heutigentags sehr gebildet, dachte er, so hab’ ich mich mein Lebtag nicht ausdrücken können.
     

Wenn der Lehrer nicht weiter weiß
     
    Käpten Snieders wollte gerade eine Eins unter „Die ursächlichen Zusammenhänge bei den Gezeiten“ schreiben, da hörte er, wie jemand die Steintreppe zur Deichkrone heraufkam. Er sah sich um und erkannte seinen Ersten Offizier Ludwig Reiners und den Knastermaat Kluten Neumann. Sie gaben ihm ein bißchen befangen die Hand und fragten ihn, ob sie sich einen Augenblick zu ihm setzen dürften.
    Der Alte freute sich über den Besuch und hatte nichts dagegen. „Na klar, Jungs“, sagte er, „nehmt Platz, die Bank ist ja lang genug.“
    Kluten zeigte auf die Aufsatzhefte und meinte: „Wir stören Sie wohl bei der Arbeit?“
    „Arbeit? Nee, arbeiten tu’ ich gar nicht, ich lese nur eure Aufsätze durch. Ihr schreibt wohl gerne Aufsätze, was?“
    Ludwig Reiners schüttelte den Kopf.
    „Nein, kein bißchen!“ sagte er.
    „Das wundert mich aber, wo ihr doch alle so lange Geschichten geschrieben habt?“
    „Das kommt nur daher, weil Sie so prima erzählt haben.“ Aber das glaubte der alte Lehrer ihnen nicht. Und um nicht noch mehr solcher peinlichen Schmeicheleien zu hören, sprach er von etwas anderem.
    „Habt ihr einen besonderen Grund, weshalb ihr mich besucht?“ fragte er.
    „Ja“, antwortete Kluten Neumann offen. „Wir möchten Sie um etwas bitten.“
    „So? Worum
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