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Titel: K
Autoren: T McCarthy
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der Hand auf die Bühne stürzen, um sie mitten im Gesang mit einem scharfen, gut gezielten Schlag zu enthaupten – prächtig! Jawohl, und dann? Also, würden wir das tun, gäbe der kopflose Hals, aus dem noch ihr Atem dringt, ein ebensolches Geräusch von sich, wie ihn Ihre um das Bleirohr beraubte Lippen produzierten. Nun, in derselben Weise sind taube Kinder… taube
Kinder sind genau wie diese kopflose Opernsängerin, da sie, da sie …«
    Es kommt zu einer Pause, in der er nach den nächsten Worten sucht; mit lautem Poltern fällt Miss Hubbard ein Bleirohr zu Boden. Die Eltern künftiger Schulkinder drehen sich nach ihr um. Mit einem Knicks hebt sie das Rohr auf, während Karrefax sich räuspert und fortfährt: »Unsere Aufgabe hier besteht darin, dem tauben Kind zu einer funktionierenden Luftröhre, einer bespielbaren Flöte mit all ihren Grifflöchern zu verhelfen, dem Kehlkopf mit seinen Klappenventilen, dem das Timbre modulierenden Rachen, dem beingestützten Gaumen, der, wird kein Druck auf ihn ausgeübt, wie ein Schleier vor dem Nasenloch hängt – und so weiter. Wie Singen ist Sprechen mechanisches Ergebnis gewisser Einstellungen der Vokalorgane. Wenn wir tauben Kindern die korrekten Einstellungen ihrer Organe erklären, dann werden sie sprechen. Timothy, Samuel und Felicity… «, er zeigt auf drei seiner vier Schützlinge, öffnet die Hand und hebt sie resolut zur Zimmerdecke – »auf!«
    Die beiden Jungen und das Mädchen erheben sich ein weiteres Mal. Karrefax dirigiert jetzt nur mit einer Hand, zeichnet präzise Figuren in die Luft, gibt Positionen vor und wiederholt eine Sequenz, die ihren Widerhall in den verschlungenen, von den Kindern im Einklang vorgebrachten Lautfolgen findet: » Ah ää oo üü ee, ah ää oo üü ee, ah ää oo üü ee …«
    Mehrmals lässt er die Kinder diese Vokalreihe durchlaufen, dann bringt er sie mit einer enthauptenden Handbewegung zum Schweigen.
    »Mit einem bloßen Anheben und Senken des Palatums erhalten wir bereits die Grundlage für eine Vielzahl von Wörtern. Timothy.« Er wählt den Jungen mit Sommersprossen aus, zwackt sich mit den Fingern ins eigene Ohr und entlockt dem Jungen die Äußerung: » Oo-ah .«

    »Prächtig! Guter Junge!«, trompetet er, greift nach der Kreide und schreibt, ehe er auf das Mädchen zeigt, »Ära« an die Tafel. »Felicity.«
    Felicity spricht die Buchstabenfolge » Ää-rah « aus und stößt die zweite Silbe mit großem Nachdruck hervor.
    »Ebenso prächtig!«, dröhnt Karrefax. Er dreht sich zur Tafel um, wischt »Ära« fort und schreibt stattdessen »Erie« an. »Samuel.«
    Der rundliche, blonde Samuel liest das Wort laut vor. Wieder wird rie , die zweite Silbe, besonders kraftvoll betont. Karrefax nickt dem Jungen zufrieden zu, wendet sich dann an sein Publikum und sagt:
    » Ohr, Ära, Erie : Bereits eine minimale Beherrschung des Vokalapparates ermöglicht es uns, Organe des Körpers zu bezeichnen, Zeitbereiche abzugrenzen und nicht nur den südlichsten der Großen Seen Nordamerikas, sondern mit dem identisch ausgesprochenen englischen Wort eeri auch jene Aura des Geheimnisvollen zu benennen, die unsere Träume umwölkt. Wie prächtig werden unsere verbalen Fähigkeiten da erst erblühen, wenn wir die Zunge ins Spiel bringen, die an die Gaumendecke schnellt wie Michelangelos Pinsel an den noch feuchten Gips der Sixtinischen Kapelle, oder die Lippen, die unsere in Kehle und Mund geformten Meisterwerke rahmen – wodurch sie uns so anziehend scheinen wie Tempel in den Augen von Pilgern. Tut Romeo denn nicht recht daran, bei seiner ersten Begegnung mit Julia die Hand auszuschlagen? Unsere Lippen kommunizieren, nicht die Hände. Sehen Sie, wie dieses gänzlich taube Kind die meinen liest – und hören Sie, wie dies vermeintlich stumme Kind die gesamte Bandbreite seines Vokalapparates nutzt, um mir zu antworten.« Er wendet sich Felicity zu, mustert sie mit aufmerksamem Blick und sagt dann langsam und deutlich: »In welcher Gegend Englands wurdest du geboren, Felicity?«

    Nach kurzer Pause antwortet Felicity: »In Talesbury, Mr Karrefax.« Sie betont das T und B in »Talesbury« mit äußerster Präzision, doch dehnt und streckt sie die Vokale, als blieben sie an den Konsonanten hängen. F und X in »Karrefax« zischen wie ein angestochener Fußball.
    »Prächtig! Und jetzt frag Timothy, wie viele Brüder er hat.«
    Felicity dreht sich zu dem sommersprossigen Jungen um und fragt langsam und gewissenhaft: »Timothy, wie viele
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