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Justiz

Justiz

Titel: Justiz
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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sagte er.
    »Danke, ich bin schon gemütlich«, antwortete der Kantonsrat, der sich gesetzt hatte.
    Der Kommandant stellte zwei Gläser auf den Tisch zwischen den beiden Sesseln, holte eine Rotweinflasche aus dem Schrank,
    »Winters Chambertin«, erklärte er und schenkte ein, setzte sich auch, starrte eine Weile vor sich hin, begann sich dann sorgfältig mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn und vom Nacken zu wischen.
    »Lieber Isaak«, begann er endlich, »sage mir um Himmels willen, warum du diesen alten Esel niedergeschossen hast.«
    »Du meinst –«, antwortete der Kantonsrat etwas zögernd.
    »Bist du dir überhaupt im klaren, was du getan hast?« unterbrach ihn der Kommandant.
    Der andere trank gemächlich aus seinem Glas, antwortete nicht auf der Stelle, betrachtete vielmehr den Kommandanten leicht erstaunt, aber auch mit leichtem Spott.
    »Selbstverständlich«, sagte er dann. »Selbstverständlich bin ich 17
    mir im klaren.«
    »Und, warum hast du Winter erschossen?«
    »Ach so«, antwortete der Kantonsrat und schien über etwas nachzudenken, lachte dann: »Ach, so ist das. Nicht übel.«
    »Was ist nicht übel?«
    »Das Ganze.«
    Der Kommandant wußte nicht, was er antworten sollte, war verwirrt, ärgerte sich. Der Mörder dagegen war geradezu heiter geworden, lachte mehrere Male leise vor sich hin, schien sich auf eine unbegreifliche Weise zu amüsieren.
    »Nun. Warum hast du den Professor ermordet?« begann der Kommandant aufs Neue hartnäckig zu fragen, eindringlich, wischte sich wieder den Schweiß aus dem Nacken und von der Stirn.
    »Ich habe keinen Grund«, gestand der Kantonsrat.
    Der Kommandant starrte ihn verwundert an, glaubte nicht recht gehört zu haben, leerte dann sein Glas Chambertin, schenkte sich wieder ein, veschüttete Wein.
    »Keinen Grund?«
    »Keinen.«
    »Das ist doch Unsinn, du mußt doch einen Grund haben«, rief der Kommandant ungeduldig aus. »Das ist doch Unsinn!«
    »Ich bitte dich, deine Pflicht zu tun«, sagte Kohler und trank sorgfältig sein Glas leer.
    »Meine Pflicht ist es, dich zu verhaften«, erklärte der Kommandant.
    »Eben.«
    Der Kommandant war verzweifelt. Er liebte Klarheit in allen Dingen. Er war ein nüchterner Mensch. Ein Mord war für ihn ein Unglücksfall, über den er kein moralisches Urteil fällte. Aber als Mann der Ordnung mußte er einen Grund haben. Ein Mord ohne Grund war für ihn nicht ein Verstoß gegen die Sitte, wohl aber gegen die Logik. Und das gab es nicht.
    »Am besten, ich stecke dich ins Irrenhaus zur Beobachtung«, erklärte er wütend. »Das gibt es doch einfach nicht, daß du ohne Grund gemordet haben willst.«
    »Ich bin völlig normal«, entgegnete Kohler ruhig.
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    »Soll ich Stüssi-Leupin telefonieren?« schlug der Kommandant vor.
    »Wozu?«
    »Du brauchst einen Verteidiger, Mann Gottes. Den besten, den wir haben, und Stüssi-Leupin ist der beste.«
    »Ein Offizialverteidiger genügt mir.«
    Der Kommandant gab es auf. Er öffnete den Kragen, atmete tief.
    »Du mußt verrückt geworden sein«, keuchte er. »Gib den Revolver.«
    »Welchen Revolver?«
    »Mit dem du den Professor erschossen hast.«
    »Den habe ich nicht«, erklärte der Dr. h.c. und erhob sich.
    »Isaak«, flehte der Kommandant, »ich hoffe, du willst uns eine Leibesvisitation ersparen!«
    Er wollte sich wieder Wein einschenken. Die Flasche war leer.
    »Der verdammte Winter hat zuviel gesoffen«, knurrte der Kommandant.
    »Laß mich endlich abführen«, schlug der Mörder vor.
    »Bitte«, entgegnete der Kommandant, »dann wird dir nichts erspart bleiben.« Er erhob sich ebenfalls, riegelte die Tür auf, klingelte dann.
    »Führen Sie den Mann ab«, sagte er zum eintretenden Polizei-wachtmeister. »Er ist verhaftet.«
    Verspäteter Verdacht: Wenn ich diese Gespräche wiederzugeben versuche – »mögliche«, weil ich ihnen nicht persönlich beigewohnt habe –, so geschieht es nicht in der Absicht, einen Roman zu schreiben. Es geschieht aus der Notwendigkeit, ein Geschehen so getreu wie möglich aufzuzeichnen, doch ist dies nicht das Schwierige. Die Justiz spielt sich zwar weitgehend hinter den Kulissen ab, aber auch hinter den Kulissen verwischen sich die gegen außen scheinbar so klar festgelegten Kompetenzen, die Rollen werden ausgetauscht oder anders verteilt, Gespräche zwischen Personen finden statt, die vor der Öffentlichkeit als unversöhnliche Feinde auftreten, überhaupt herrscht eine andere Tonart. Nicht alles wird festgehalten und den Akten
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