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Jung genug zu sterben

Jung genug zu sterben

Titel: Jung genug zu sterben
Autoren: Joerg Liemann
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verabredet hatten oder ob er eine andere genannt hatte. Mir war, als hätte ich ihn eben gesehen, als ich aus dem Zug gestiegen bin.«
    »Aus welcher Richtung sind Sie denn angereist?«
    »Zürich, Chur, Samedan, Pontresina.«
    »So. Nein, dann kann er es nicht gewesen sein. Er wolltenach St.   Moritz. Er hat den letzten Zug genommen, nach St.   Moritz.«
    »Den letzten? Das ist aber dumm.«
    »Nein, ich meine: den, der zuletzt gefahren ist. Als Sie kamen, stand der auf dem Gleis gegenüber. Sie müssten ihn gesehen haben.«
    »Auf so etwas achte ich in der Regel nicht.«
    »Wie alle Männer«, sagte sie lächelnd. »Aber um auf Ihre Frage zu antworten: Der Herr   … Jenissej, ja, er war unser Gast. Ist umgesiedelt nach St.   Moritz. Wissen Sie, da ist es doch mondäner. Bei uns hat man die Natur. Aber sonst natürlich: nichts. Deshalb bleiben viele nur ein oder zwei Nächte, wenn sie auf Wanderung sind.«
    »Wann geht denn der nächste Zug nach St.   Moritz?«
    »Der nächste? Warten Sie, ich denke, das ist der 22   :   06.«
    »22   Uhr 06   Uhr? Das sind ja   … fast noch zwei Stunden.«
    »Und es ist der letzte heute.«
    »Wie komme ich schneller weg?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Bedaure   … Haben Sie ein Handy? Ihr Freund ist bestimmt telefonisch erreichbar.«
    »Nein, ähm, selbst wenn. Er hat unsere Verabredung vergessen. Ich will ihm hinterherfahren und ihm tüchtig den Marsch blasen.«
    »Verstehe.« Sie schaute verschwörerisch. »Wenn er Sie versetzt hat, das ist ja wirklich nicht nett. Wissen Sie, wo er in St.   Moritz unterkommt?«
    »Ja«, sagte Lascheter. »Er verbringt regelmäßig zwei Wochen im Jahr im
Arosa Kulm
. Ich bin sicher, dass er dort wieder eine Suite gemietet hat.«
    »Na, da wäre ich ja furchtbar gern Mäuschen, was Sie ihm sagen, wenn Sie ihm da auflauern.«
    Lascheter versuchte, das Mitleidige in seinem Blick zu unterdrücken.
    »Kommen Sie rein, ich mache Ihnen ein Nachtessen. Und einen Kübel Bier dazu, da wartet sich’s viel leichter.«
    »Ah, nein, danke. 22   Uhr 06, sagten Sie? Ich denke, ich bevorzuge momentan die frische Luft. Es ist trocken geworden. Ich setze mich draußen hin und lasse meine Wut verrauchen.«
     
    Lascheter lief den leeren Bahnsteig entlang, hinein ins Panorama der Berge. Der Himmel war jetzt noch heller als die Berge.
    Pia beobachtete ihn durch die Gardine des Restaurants.
    »Hat er Ihnen abgenommen, dass Sie die Geschäftsführerin sind?«, fragte die Geschäftsführerin.
    »Klar«, sagte Pia, ohne darüber nachzudenken, ob es die Frau kränkte oder nicht. »Er hat mir sogar abgenommen, dass Jenissej nach St.   Moritz gefahren ist. Wenn wir Glück haben, vertrödelt Lascheter anderthalb Stunden, plus die Fahrt nach St.   Moritz. Vor morgen früh schnallt er das nicht.«
    »Und Ihr   … Jenissej? Ist Richtung Tirano gefahren?«
    Pia nickte. »Sehr knapp. Genau mit dem Zug, mit dem Lascheter angekommen ist.«
    »Das ist ja ein Krimi«, freute sich die Geschäftsführerin. »So viel passiert sonst nicht hier.« Bei den letzten Worten bremste sie ihre Stimmung. In Erinnerung an Riccarda. »Noch eine Stange Bier?«
    »Nein. Einen Kübel. Schließlich muss ich ihn noch dreiundachtzig Minuten im Auge behalten.«
    Der einzige andere Mensch auf der Ebene der Alp Grüm war ein Gleiswart. Er stocherte mit einem Eisen im Schotter des Abstellgleises.
    »Der beseitigt Unkraut aus dem Trassee«, antwortete die Geschäftsführerin auf Pias Frage.
    »Um die Zeit?«
    »Wartet halt auch auf den nächsten Zug. Und nutzt die Zeit sinnvoll.«
    Lascheter schlenderte auf den Mann zu und verwickelte ihn in ein Gespräch. Nach einer Weile zeigte der Mann auf das Panorama der Berge und des Puschlavtals. Lascheter zeigte in die Gegenrichtung, zurück zum Bahnhof der Alp Grüm. Die Bewegungen wurden lebhafter. Der Mann deutete mit Nachdruck ins Tal, Lascheter zeigte gegenläufig. Lascheter wirkte nicht mehr gelassen und wartend, er sah sich immer wieder um und schien etwas zu suchen.
    Pia fluchte. »Der Typ hat Jenissej gesehen! Er hat ihm gesagt, dass Jenissej auf dem Zug nach Tirano ist.«
    Die Geschäftsführerin stellte den Kübel ab und sah nun auch durch die Gardine. »Woher wissen Sie das?«
    »Die Bewegungen sind eindeutig. – Fährt noch ein Zug nach Tirano runter?«
    Die Geschäftsführerin ging hinter die Theke und sah auf den Plan. »Ja. – In gut einer Stunde.«
    »Er ist weg.«
    »Wie bitte?«
    »Lascheter ist weg. Wo kann er hin sein?«
    Die
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