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Jugend

Jugend

Titel: Jugend
Autoren: Josef Conrad
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Das Deck war eine Wildnis zertrümmerter Balken, die kreuz und quer übereinanderlagen, wie nach einem Wirbelsturm die Baumstämme in einem Wald; sanf bauschte sich vor mir ein gewaltiger Vorhang aus grobem Tuch – es war das Großmarssegel, das zerrissen war. Ich dachte, der Mast müsse gleich kippen, und hastete, um nicht getroffen zu werden, auf allen vieren zur Pooptreppe. Der erste Mensch, dem ich begegnete, war Mahon. Er hatte Augen, groß wie Untertassen, sperrte den Mund weit auf, und das lange weiße Haar stand ihm rings um den Kopf zu Berge wie ein Heiligenschein. Er war soeben im Begriff gewesen, hinunterzugehen, als ihn der Anblick des Großdecks, das in Bewegung geriet, sich aufbäumte und vor seinen Augen in Splitter verwandelte, auf der obersten Stufe zu Stein erstarren ließ. Ich blickte ihn ungläubig an, und er stierte mit sonderbar entsetzter Neugierde auf mich herab. Ich wußte ja nicht, daß ich keine Haare mehr hatte, keine Augenbrauen, keine Wimpern, daß mein junger Schnurrbart fortgesengt, daß mein Gesicht schwarz war, die eine Wange aufgeschlitzt, meine Nase zerschrammt, und daß mein Kinn blutete. Ich hatte meine Mütze verloren samt einem meiner Pantoffel, und mein Hemd war zerrissen. All das entging mir. Ich war verblüf, das Schiff noch immer schwimmend zu sehen, die Poop heil – und vor allem war ich verblüf, noch jemand am Leben zu sehen. Auch der Friede des Himmels und die strahlende Heiterkeit des Meeres waren ausgesprochen überraschend. Vermutlich hatte ich erwartet, sie in einem Schreckensaufruhr zu sehen … Bitte, die Flasche.
    Von irgendwo rief eine Stimme das Schiff an – aus der Luf, aus dem Himmel –, ich konnte es nicht sagen. Plötzlich sah ich den Kapitän – und der war von Sinnen. Er fragte mich eifrig: ›Wo ist nur der Kajütstisch?‹ und bei dieser Frage packte mich das helle Entsetzen. Soeben war ich durch die Luf geschleudert worden, versteht ihr, und dieses Erlebnis bebte noch in mir nach – ich war mir nicht einmal ganz sicher, ob ich noch am Leben war. Mahon begann, mit beiden Füßen aufzustampfen und schrie seinen Kapitän an: ›Gütiger Gott! Sehen Sie denn nicht, daß das Deck in die Luf geflogen ist?‹ Ich fand die Sprache wieder und stotterte, als sei ich mir einer großen Pflichtvergessenheit bewußt geworden: ›Ich weiß nicht, wo der Kajütstisch geblieben ist.‹ Es war wie ein aberwitziger Traum.
    Wißt ihr, was er als nächstes im Sinn hatte? Nun, er wollte die Rahen getrimmt haben. Sehr sanf und wie in Gedanken verloren, bestand er darauf, daß die Fockrahe vierkant geholt werde. ›Ich weiß nicht, ob noch jemand am Leben ist‹, sagte Mahon, den Tränen nahe. ›Gewiß‹, sagte er ruhig, ›werden noch genug übrig sein, um die Fockrahe vierkant zu brassen.‹
    Der alte Knabe war anscheinend in seiner eigenen Kammer gewesen und hatte die Chronometer aufgezogen, als die Explosion ihn um seine eigene Achse wirbeln ließ. Sogleich sei ihm der Gedanke gekommen – sagte er später –, das Schiff müsse etwas gerammt haben, und da sei er in die Kajüte hinausgestürmt. Hier sah er nun, daß der Kajütstisch verschwunden war. Als das Deck in die Luf flog, war der Tisch natürlich ins Lazarett hinabgefallen. Dort, wo wir am Morgen unser Frühstück eingenommen hatten, sah er jetzt nur noch ein gähnendes Loch im Boden. Dies erschien ihm so fürchterlich rätselhaf und beeindruckte ihn so tief, daß ihm alles, was er hernach sah und horte, als er an Deck kam, im Vergleich hierzu wie bloße Spielerei vorkam. Und, wohlgemerkt, er stellte sogleich fest, daß das Ruder verlassen und seine Bark vom Kurs abgekommen war – und sein einziges Anliegen war es, dieses erbärmliche, abgetakelte, abgedeckte, qualmende Gerippe von einem Schiff wieder mit dem Kopf in Richtung auf den Bestimmungshafen zu bringen. Bangkok! Darauf kam es ihm an. Ich sage auch, dieser ruhige, gebeugte, krummbeinige, fast krüppelhafe kleine Mann war gewaltig in seiner Entschlossenheit und in seiner gelassenen Mißachtung unserer Aufregung. Er schickte uns mit einer gebieterischen Handbewegung nach vorn und übernahm selbst das Ruder.
    Ja, das war das erste, was wir taten – wir trimmten die Rahen dieses Wracks! Niemand war getötet oder auch nur dienstunfähig gemacht worden, doch jeder war mehr oder weniger verletzt. Ihr hättet sie sehen sollen! Manche waren zerlumpt, mit schwarzen Gesichtern, wie Kohlenträger, wie Schornsteinfeger, und manche hatten Kugelköpfe,
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