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Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders

Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders

Titel: Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders
Autoren: Paul Moor
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erstenmal einer Tagung der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung bei. Mehr als ein Analytiker in Deutschland vertrat die Meinung, daß Jürgen, wenn er durch eine gründliche therapeutische Psychoanalyse zur völligen Klarheit über sich und seine Taten käme, mit seiner schrecklichen Vergangenheit und gegenwärtigen Realität einfach nicht mehr leben könnte.
    Am Heiligabend 1975 schrieb er mir eine sachliche, nüchterne Darstellung der körperlichen und psychischen Entwicklungen, mit denen er nach seiner Kastration rechnen müßte.
    In meiner Antwort auf Jürgens Brief vom 30.   März 1976 schrieb ich, daß ich am 25.   April Berlin für vier Wochen verlassen würde, um nach New York, Mississippi und Kalifornien zu fliegen. Sein letzter Brief an mich, an meine Berliner Adresse geschickt, trägt das Datum 21.   April. Er hat den Umschlag voller Marken geklebt und darauf PER EILBOTEN – SOFORT AUSZUTRAGEN! geschrieben, aber erst am 26.   April – einen Tagnach meinem Abflug aus Berlin, zwei Tage vor seinem Tod – kam der Brief durch die Anstaltszensur und ins Eickelborner Postamt. In New York erfuhr ich – durch einen Anruf einer dortigen deutschen Korrespondentin, die mich aufgespürt hatte – von Jürgens Tod einige Stunden früher. – Seinen letzten Brief bekam ich erst Tage später in Mississippi, wo ich meine Mutter besuchte].
     
     
    den 21.   4.   76
     
    Lieber Paule, alter Freund!
    Entschuldige die vielen Marken. Es ging nicht kleiner. Ich will, daß Du diesen Brief noch in Germany erhältst, darum wären es ja so oder so viele Marken geworden.
    Schön, wieder von Dir zu hören, alter Kumpel. Also hatte ich Deinen Zustand richtig gedeutet. Nun weiß ich auch, warum. «Charlie» als alleiniger Grund war mir sowieso suspekt. Bei aller Hundeliebe. Ich hoffe auch für Dich, lieber Paule, daß auch eine zweite Augenoperation Deiner Mutter gut geht. Ferner, alle guten Wünsche für Arbeits-Erfolg in Deiner Heimat! Du hattest in der letzten Zeit mehrmals ein wenig geklagt. Was fehlte? Die Arbeits-Lust? (In Germany würde man als kleiner Mann auf der Straße sagen: «Rübe ab!» oder: «Bei Adolf hätt’s das nicht gegeben!») Schluß der Scherze. Warum war Dir so gar nicht nach Scherzen zumute? Keine (Arbeits-)Ideen mehr? Kein Verdienst mehr? (In Mark umgerechnet   …) Oder alles zusammen? Öffne mal mir Deine Seelenlandschaft, alter Paule   …
    Heute war ein recht interessanter Tag. Einer, der mich (ein Patient eines anderen Hauses) gar nicht kennt, erbat eine Schreiberlaubnis (über mich und persönliche Briefe an einen anderen Patienten, welche ich, völlig nichtssagende Dinger, ich bin ja vorsichtig, an diesen anderen Patienten geschrieben hatte) von mir. Ich habe sofort Bossi eingeschaltet. Persönlichkeitsrechte. Dieser Patient hat wahrscheinlich vor («Kommunistischer Verlag», BOCHUM), ein Buch zu schreiben. Das wird kaum dazu kommen, aber Vorsicht ist immer geboten. Okay?
    Ein Fragebogen, sechs Seiten, in meiner «Fachzeitschrift fürTäuschungskünstler», von der UNI FREIBURG, Lehrstuhl für Parapsychologie, Prof.   Bender. Entgegen aller Verteufelei eine wissenschaftlich fundierte Sache. Trick-Experten und Parapsychologen arbeiten heute zusammen. Ziel: betrügerische Machenschaften aufdecken. Echte «PSI»-Phänomene suchen. Fazit: Die Zeit des SUCHENS ist noch lange nicht vorbei   … In zwei Stunden hatte ich den Bogen ausgefüllt.
    Herr Mätzler, der (heute Kriminalrat) Mann, der mich vor zehn Jahren fing [Hier eine Fußnote: «21.   Juni 76   Strafzeit vorbei, verbüßt   …»], wird mich in der Heilanstalt wieder besuchen. So schrieb er mir heute. Wir sind ja gute Freunde geworden, er hat mich auch schon besucht. «Fachlich» kann er nicht viel sagen, er «betet» . (als Laie, verständlich) die Ärzteschaft und deren Ansichten an, aber er ist psychologisch mit gutem Willen, Menschen zu helfen, durch Worte, ausgestattet, und das ist in meiner Lage schon sehr viel. Du bist da der Beste, alter Freund, aber jeder Bezugs-Mensch ist für mich wichtig, Du weißt es.
    Wenn Herr Mätzler kommt (Maria war letzte Woche da, Gisela sogar zweimal), wird auch immer «gezaubert».
     
    [Die unvollendeten Sätze, die ungewöhnlich hektische Betonung von so vielen Worten im folgenden Text bezeugen Jürgens seelischen Zustand in der letzten Woche vor der Kastration.]
     
    Zur Kastration: letztes Jahr großes Theater, Konferenz mit zwölf Leuten, Oberarzt Dr.   Norda, Dr.   Teuber,
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