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Judastöchter

Titel: Judastöchter
Autoren: Markus Heitz
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abschreiben?«
    »Ja. Das ist total langweilig. Kann ich auch alles schon, aber ich mache es trotzdem, damit der Lehrer zufrieden ist.« Elena wippte mit den Füßen, die weißen Turnschuhe waren dreckig vom Schneematsch, ebenso die Säume ihrer braunen Hose. »Ich könnte schon in der dritten Klasse sein. Denke ich. Frau Thomaczik sagt das auch.«
    »Wer ist denn Frau Thomaczik?«
    »Die Pfarrerin, die uns in Religion unterrichtet. Sie sagt, ich bin ziemlich schlau.«
    »Stimmt. Das bist du. Wo du schon weißt, dass Vampire gerne am Nordpol sind.« Sia setzte sich ihr gegenüber, warf einen Blick auf Emma. »Hat sie reagiert, als du ihre Hand gehalten und mit ihr gesprochen hast?«
    Elena presste die Lippen zusammen, atmete schneller und schüttelte schwach den Kopf. »Das eine Mal, als Mama meinen Namen gerufen hat … es war ein Traum oder so etwas. Seitdem liegt sie da wie jeden Tag.«
    »Dann müssen wir weiter warten.« Sia atmete durch und sah ihrer Nichte an, dass sie um Fassung rang und die Fassade des tapferen Mädchens nicht mehr lange aufrechterhalten würde.
Elendes Nichtstun!
»Kommst du zurecht?«
    Elena nickte langsam, schraubte den Füller zu und legte ihn in die Mitte des Schreibheftes, damit er nicht wegrollte. »Ich mache mir Vorwürfe, weil ich Mama nicht helfen konnte«, flüsterte sie traurig. »Und dass ich meinen Freunden und den Nachbarn nicht helfen konnte, die durch diese … Vampirin umgebracht wurden.« Sie schluchzte leise. »Tante Sia …«
    Sie ist nicht so stark, wie sie gerne tut.
Sia ging neben dem Stuhl auf die Knie, der Ledermantel knirschte dabei leise, und nahm das Mädchen in den Arm. »Du hättest nichts unternehmen können. Dieses Wesen war zu mächtig,
viel
zu mächtig für dich. Selbst ich habe es eigentlich nicht alleine geschafft.«
    Sia erinnerte sich an die schreckliche Blutnacht, in der Tanguy Guivarch, einer ihrer vergessenen Nachfahren aus dem achtzehnten Jahrhundert, sie in Leipzig aufgespürt hatte. Der wahnsinnige Tanguy hatte sich an ihr für die unzähligen Dekaden der vermeintlichen Missachtung rächen und alles vernichten wollen, was für sie von Bedeutung war. In der Gestalt von Tonja Umaschwili, einer angeblichen Cousine, hatte er vor Emmas Tür gestanden, damit niemand Verdacht schöpfte.
    Was danach gefolgt war, nannten die Zeitungen ein Massaker, und selbst diese Bezeichnung wurde dem nicht gerecht, was Tanguy angerichtet hatte: Die Menschen im Mietshaus hatte er zerrissen und zerfetzt, die Leichen in Emmas Wohnung aufgestapelt, Elena und Emma gefangen und auf Sia gewartet. Es war zu einem langen Kampf gekommen, bei dem Emma von Tanguy über den Balkon geworfen wurde. Das war der Grund für ihr Hirntrauma.
    Sia drückte die weinende Elena an sich.
Es ist sehr schwer für sie. Ich sollte vielleicht wirklich mit einem Psychologen darüber sprechen, welche Behandlung Sinn macht.
Sie konnte nur erahnen, wie viel von Tanguys Grausamkeiten ihre Nichte mitbekommen hatte. Sia streichelte über die halblangen, braunen Haare und wiegte das Mädchen hin und her, um sie zu beruhigen.
    Ohne meinen Schutzengel wäre ich heute auch nicht hier. Keine von uns.
Oft hatte Sia an den Unbekannten gedacht, den Maskierten in Weiß, der sie nach dem Kampf gegen Tanguy vor der Auslöschung bewahrt hatte. Ein Gestaltenwandler, ein Werwolf hatte sie attackieren wollen, als sie entkräftet am Boden lag – doch der Maskierte war aufgetaucht und hatte den Wandler hingerichtet. Seitdem fehlte jede Spur von dem Werwolfjäger, dem sie schon einmal zuvor begegnet war. Der alte Spruch
Man sieht sich immer zweimal im Leben
stimmte.
Ohne sein Eingreifen wäre Elena ganz allein.
Abgesehen davon fand sie ihn als Mann attraktiv und faszinierend. Sia vermutete, dass er ein Tarnleben führte, meistens einsam war, und sie spürte eine unbestimmbare Verbundenheit.
    Das Mädchen schniefte wieder und setzte sich gerade an den Tisch. »Geht schon«, nuschelte sie und nahm ein Taschentuch aus dem Sweater, schneuzte sich und seufzte danach anhaltend. »Ich habe eine Bitte: Kannst du mir das Schießen beibringen? Und das Kämpfen, Tante Sia? Ich möchte nicht, dass noch einmal jemand Mama und mir weh tut. Ich will mich … uns verteidigen können.«
    Sie ist wirklich tapfer.
Sia sah ihr an, dass sie es ernst meinte. »Du bist noch ein bisschen jung. Wenn du zehn bist …«
    »Vielleicht taucht aber bis dahin wieder irgendeine Kreatur auf«, fiel ihr Elena ins Wort. »Ich bin nicht doof. Du bist
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